Das Boarloch.
Ein beliebter und auch sehr lohnender Uebergang im Kaisergebirge ist von Hinterbärenbad über das Stripsenjoch nach St. Johann in Tirol. Zu empfehlen ist, am Abend nach Hinterbärenbad zu gehen und dort zu übernachten. Wenn man sich dann andern Tags um 5 Uhr früh auf den Weg macht, so kann man, noch in der Morgenkühle ansteigend, bequem bis 7 Uhr auf des Joches Höhe gelangen. Vom Joche hinab über den Wildanger und hinaus durch das Kaiserbachtal nach St. Johann rechnet man vier Stunden; man kann somit zwischen 12 und 1 Uhr in St. Johann sein, dort gemütlich Mittag machen, sich im schmucken und ansehnlichen Dorfe umschauen, und mit dem Nachmittag- oder Abendzuge über Wörgl nach Kufstein zurückfahren. Das einzige, was die Stripsenjoch-Tour früher bedenklich machte, war der Abstieg zum Wildanger; jetzt ist aber von der Sektion Kufstein da hinunter ein sicherer Weg hergestellt. Man wandert da in der Mitte zweier Gebirgsstöcke zwischen dem Wilden und Hinterkaiser durch. Links üppige Alpentriften, rechts starre Wildnis, hier blühendes Naturleben mit reicher Flora, dort die furchtbaren Felskolosse mit den ernsten Trümmer-Wüsten, ein Kontrast voll von wechselnden Eindrücken. Mit der Wanderung durch das Kaisertal auf das Stripsen-joch und hinaus durch das Kaiserbachtal hat man den nördlichen und östlichen Kaiser und mit der Fahrt von St. Johann nach Wörgl die südliche Kette und somit den ganzen Wilden Kaiser umkreist. Auf dem oben erwähnten Wege von Hinterbärenbad zum Stripsenjoch erreicht man in einer leichten Stunde die Neustadler Lichtung, eine geräumige Waldblöße. Wer im Frühsommer vor der Sonne dahin kommt und sich auf dem Wege dahin jedes Lautes, selbst des Anschlagens des Bergstockes am Gestein enthält, kann von dort auf den Schneeplätzen im Hochwinkel leicht Gemsen sehen und sich an ihren possierlichen Sprüngen erfreuen. Es ist ein einsamer, abgeschlossener Platz nahe an den Steilwänden des Totenkirchl und am aufsteigenden Hochwinkel mit dem Kopftörl und den Zacken des Haltstockes, welcher knapp vor uns den Koloß der Kleinen Halt vordrängt, an dessen Felsenwand hoch oben eine große Höhle unsere Aufmerksamkeit fesselt. Je gespannter man diese Höhle betrachtet, desto mehr bekommt man das unheimliche Gefühl, als ob sich in dem Dunkel derselben jemand bewege. Es ist dieses das "Boarloch" mit seinen Geistern, von denen ein alter Jäger im vollen Eifer erzählt:
"Wir waren in früher Morgen-Dämmerung auf dem Hahnfalz; es waren unser drei, still lauschend und fröstelnd stand jeder ans seinem Posten, indes die Morgen-Nebel an uns vorüberzogen. "Du schau, der Boarkönig steht oben mit gespreizten Armen und schaut böse auf uns herab," lispelte mir der Sepp herüber. Obwohl uns am
ganzen Leibe fror, so trieb uns doch die Angst und der Schrecken den Schweiß ins Gesicht. Wir getrauten uns nicht zu rühren bis er wieder verschwunden war." So erzählte der alte Jäger, und ein noch junger, gewiß nilcht furchtsamer Holzknecht läßt sich's durchaus nicht nehmen, den Boarkönig gesehen zu haben. Die Sage von einem Fürsten da oben ist aber viel älter, als die Zeiten der bayerischen Könige. Es scheint dieses eine alte, durch Zeitereignisse verstümmelte Kaisersage zu sein. Die Gestalt, die sich da oben sehen ließ, war wohl einer von den sieben am Eingang zu des Kaisers Hallen Wache haltenden Riesen, der von Zeit zu Zeit schauen mußte, ob die Deutschen noch nicht einig wären, weshalb er auch jetzt nicht mehr zu sehen ist.
Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 37ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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