Verbannte Jungfrauen auf der Hinteren Goinger Halt.
Wer die majestätische Gebirgskette des Wilden Kaisers von St. Johann in Tirol. Kitzbühel oder Ellmau aus geschaut hat, hat wohl die auffallend tiefe und breite Einsenkung des mächtigen großen Ellmauer Tores beobachtet, welches sich durch die ganze Breite des Gebirgsstockes durchzieht und mit der Steinernen Rinne gegen Norden zum Wildanger im Kaiserbachtal abstürzt. Wenn man vom Stripsenjoche absteigend den Wilden Anger erreicht, sieht man unmittelbar vor sich zwischen der Fleischkank und dem PredigtstuhI eine breite, jedoch seichte Rinne emporziehen, die aus einer einzigen riesigen Platte zu bestehen scheint; das ist die Steinerne Rinne. In Wirklichkeit zerfällt sie in drei Wandstufen, zwschen denen kleine Terrassen eingebettet sind. Während früher die Erkletterung nur geübten, kletterfertigen und schwindelfreien Touristen möglich war, hat die Alpenvereinssektion Kufstein einen gutgesicherten Steig errichtet, der nach dem munifizenten Erbauer „Josef-Egger-Weg" genannt wird. Steil, doch ohne Gefahr (und immerhin nur für Schwindelfreie ratsam) gelangt man in etwa zwei Stunden vom Stripsenjochhaus aus zum Großen Ellmauer Tor, von dem aus man mit geringem Zeitaufwand auf einem Steig die Hintere Goinger Halt (2244 Meter) erreichen und den Rückweg durch das große Ellmauer Tor über die Grutten-, oder etwas steiler über die Gaudeamushütte nach Ellmau machen kann. Dieses Tor muß man durchwandert und von der Hinteren Goinger Halt in den prächtigen Felsenzirkus des Griesener Kares hinabgeblickt haben, dann erst hat man sich von der wildernsten Erhabenheit des Innern des Katsergebirges den richtigen Eindruck und die nötige Kenntnis verschafft. Die Tour von Ellmau aus hinauf auf des Tores Höhe und zur Hinteren Goinger Haltspitze und von da wieder zurück ist nicht schwer und ohne Gefahr. Aber über die Steinerne Rinne hinauf, da sitzt der schwarze Hund und läßt nur den Mutigen durchkommen. Denn hört und merkt wohl auf, besonders ihr Mädchen, was ich gehört habe, und euch nun erzähle:
Da oben auf der Hinteren Goinger Halt ist keine Vegetation mehr, kein einziges Würzlein, kein Kräutlein wächst da oben, es gibt nichts als brüchiges Gestein. Selbst das kleinste Tierlein könnte da weder Speise noch Trank finden, und doch leben auf der höchsten Spitze oben kleine, possierliche Mäuschen.
Es sind dies hier herauf verbannte Jungfrauen. Ein hübsscher, braver Jüngling war einst von einem schönen, aber hochmütigen Mädchen in seiner Liebe zu ihr verschmäht worden: ja, sie hatte sogar mit seinem Herzen ihr leichtfertiges Spiel getrieben, ihn unglücklich gemacht und ihm alle Lebensfreude genommen. In seinem Herzeleid und Gram wollte er von der Welt und den Menschen nichts mehr wissen und ging in die Einsamkeit des Wilden Kaisers, wo er lange traurig und trostlos umherirrte. Schließlich stieg er über die Steinerne Rinne zum Großen Ellmauer Tor und von da auf die Spitze der Hinteren Goinger Halt, wohin ihm überall sein treuer schwarzer Hund folgte.
Der Wilde Kaiser von Süden
Des Lebens müde, verfluchte er alle liebesspröden und hochmütigen Mädchen und verwünschte sie hier herauf als Mäuse, die nur von jenen Jünglingen aus ihrer Verbannung wieder sollten erlöst werden können, welche über die Steinerne Rinne zur Hinteren Goinger Haltspitze aufsteigen, wo sein treuer, schwarzer Hund für immer Wache halten soll. Nachdem er solch’ fürchterliche Verwünschung getan, stürzte er sich mit einem jähen Schrei in den Abgrund. Seitdem rispelt und wispelt es voll der verwunschenen Jungfrauen als Mäuschen da oben, der schwarze Hund aber sitzt immer noch oberhalb der Steinernen Rinne und überwacht die Erlösung der verbannten Jungfrauen auf der Hinteren Goinger Halt.
Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 59ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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