Das Mirakelbrünndl und das Geldloch in den Scharlingerböden.
Die Lauterbacher auf der Ellmauer Halt.

Das Wasser vom Mirakelbrünndl hat auch bei der Hütte in Hinterbärenbad einen Ausfluß, man kann also auch da seine Wunderkraft probieren. Wer aber zum Ursprung dieser Wunderquelle will, der muß eine Stunde weit auf steinigem Pfad hinaufsteigen zu den unteren Scharlingerböden. Dort entspringt diese gepriesene Quelle aus den Felsen. Ist der Boden noch so steinig, der Felsen noch so hart, das Wasser schafft frisches Leben darauf. Das lustig sprudelnde Bächlein belebt die ernste Umgebung mit üppigen Blumen, mit den Gewächsen der Scharlinger Heilkräuter und mit Pflanzen aller Art, ebenso erfrischt es auch das Menschenherz mit neuem Leben. Darum Wanderer:

"Trinke an dieser Quelle hier,
Diesen Trunk bringt der Kaiser dir."

Hinterbärenbad

Hier am Mirakelbrünndl ist auch die erste Raststation bei der Ersteigung der höchsten Spitze des Kaisergebirgs, der Ellmauer Halt.  Hat der Bergsteiger hier am frischen Quell sich gelabt, so geht es nun aufwärts zu den breiten Terrassen  der Scharlingerböden,  eine der großartigsten Partien  des Kaisergebirges. In furchtbaren Wänden stürzen Kleine Halt, Gamshalt, Treffauer,  Kleinkaiser, Sonneck und Gamskarköpfl in dieses mit Schutt und Trümmern erfüllte Hochtal hinab.  Eine alte Sage erzählt, daß in diesem Hochtal ein Geldloch sei, welches während der Fronleichnamsprozession sich öffne. Wer aus reinen Antrieben hier Geld sucht, der sei glücklich im Funde, wehe aber dem, der aus niedriger Geldsucht zu jener Stunde sich dorthin wagt.   Ein armes Weib, getrieben von Not, Liebe und Sorge für ihr Kind und ihren Mann, begab sich zu besagter Zeit dorthin, um Geld zu finden. Als aus den Tälern das Geläute hereindrang und der Knall der   Pöller, welcher  den  Beginn  der  Prozession ankündigte,  an  den Wanden widerhallte,  da öffnete  sich  das Geldloch.

Mit ihrem Kindlein auf dem Arm ging sie hinein, setzte das Kleine auf den Boden, füllte die Schürze mit Geld   und trug es hinaus. Als sie jedoch um ihr Kind wieder hineinwollte, war das Geldloch geschlossen. Ein  Schrei   des Entsetzens prallte an den starrenden  Wänden  unbarmherzig  ab. Alles  Jammern, alles Flehen war  vergebens, nichts regte sich mehr in der erstarrten Natur. Da ging sie nach Hause und klagte ihr Leid dem Pfarrer. Dieser sagte: "War deine Absicht eine reine, eine gute, so vertraue  auf Gott, und gehe übers Jahr zur gleichen Stunde wieder hin."  Das lange Jahr war geschwunden und das arme Weib stand in den noch mit Schnee und Eis bedeckten Scharlingerböden bebend vor dem Geldloch. Während das Glockengeläute und der Pöllerknall der Fronleichnamsprozession aus den Tälern an  den  schaurigen Wänden im Widerhall ertönte,   öffnete sich wieder das Geldloch, sie stürzte hinein und fand ihr Kind frisch und munter, ihr freudig die Händlein entgegenstreckend. Sie nahm ihr geliebtes Kind und eilte hinaus, ohne von den Massen funkelnden Goldes etwas zu nehmen.

Als sie nun ihr Kind fragte, was es gegessen und wo es geschlafen habe, erzählte dieses der Mutter, wie kleine Männlein es so liebevoll gepflegt, in welche herrliche Hallen es gekommen und wie es den Kaiser in seiner prächtigen Burg gesehen.

Ein Mann, der auch die Kunde vernommen, stieg zu bewußter Zeit zu den Scharlingerböden hinauf, um sich in schnöder Gewinnsucht zu bereichern; auch er hörte die Prozession durch Schall und Knall ankündigen, doch von einem Geldloch sich öffnen, sah er nichts, und als er so spähte, da sah er unter sich eine dunkle Gestalt umhergeh'n. Er dachte, dieses sei ein Gemsenjäger; als er aber hinunterstieg, sah er niemand und fand auch nicht die geringste Spur eines Trittes im Schnee; es war der Teufel. Schauer überkam ihn und er floh mit Angst und Schrecken,  aber ohne Geld aus den Scharlingerböden.

Von dem oberen Scharlingerboden steigt man einen steilen, mächtigen Geröllhang empor, der dem Bergsteiger gar manchen Schweißtropfen kostet. Jetzt ist ein Zickzack-Weg angelegt, welcher die Mühen des Aufstieges bedeutend erleichtert. Am obersten Teile sind Drahtseile und Stiften angebracht, mit deren Hilfe man alsbald die "Rote Rinnscharte" erreicht, welche im Verbindungsgrate zwischen Haltspitze und Kaiserkopf eingeschnitten ist.

Hiemit ist man den düsteren Scharlingerböden entschritten und steigt hinüber auf die Südseite des Wilden Kaisers.

Staunend bleibt der Wanderer hier stehen und schaut bewundernd auf die Wildheit und Zerrissenheit dieses Gebirges, von der man unten im Tale keine Ahnung hat. Dann streift sein Blick hinaus über die weiten Berge der ausgedehnten Gletscherketten. Nun beginnt für den Haltsteiger eine etwas schwierige Partie, Schwindelfreiheit ist jetzt vonnöten und einige Kraft in den Armen gut zu gebrauchen. Zuerst geht es mit Hilfe eines Drahtseiles über eine steile Platte hinweg zur sogenannten Jägerwand. Hier wird der Bergstock abgelegt, um zum Weitersteigen die Hände frei zu haben. Nun steigt man über brüchige, teilweise geröllbedeckte Felsstufen dem Westgrat des Haltspitzstockes entlang aufwärts, bis man zur sogenannten "Achselrinne" gelangt. Es ist dies ein enger Riß, im unbezwinglichen Plattenpanzer der Halt, durch welchen die Besteigung am besten möglich ist. - Früher mußte man unter einem im Spalte eingezwängten Felsblocke durchschlüpfen und dann mit großer Mühe sich aus der Kluft emporarbeiten; nunmehr erleichtern Elsenstifte und Klammern den Einstieg in die Räume, und eine aus Drahtseil hergestellte Leiter, welche von, oben hereinhängt, leitet fast mühelos aus dem dunklen Schlunde. Damit hat man auch die schwierigen Stellen hinter sich. Wir rasten auf der "Maximilianstraße", einem breiten Felsbande, welches von den Münchenern scherzweise so getauft wurde, weil es im Gegensatze zu den rings aufstarrenden Wänden leicht und eben genannt werden kann.

Halt-Spitze
Gipfel der Ellmauer Halt-Spitze

Die Halt ist nicht gefährlich, aber beschwerlich; "nur Zeit lassen," sagt der Führer, dessen kundiger Fährte man auf jedem Tritt folgt. Aber immer hastiger steigt der Tourist voll gespannter Erwartung zwischen den Felsblöcken empor. Auf einmal bleibt der Führer vor dem Haltsteiger stehen und heißt ihn aufwärts schauen. Welche Freude; unerwartet steht in kurzer Entfernung im Sonnenglanze das Haltkreuz oben.*)

Nun geht es wie mit erneuter Kraft hinauf, noch ist der letzte Plattensturz zu bewältigen, was mit Hilfe der teilweise angebrachten Drahtseile keine besondere Schwierigkeit mehr bietet, und der Lohn für männliches Ringen ist erreicht; der Steiger steht oben auf der höchsten Spitze des Kaisers. Mit heller Freude umarmt er das so oft vom Tale und von den Bergen geschaute Kreuz und blickt hinunter in die schauerlichen Tiefen, hinweg über die zahlreichen Zinnen des Kaisers, hinüber zu den unzähligen, firngekrönten Häuptern und hinab in die üppigen Täler mit ihren Iieblichen Dörfern und Weilern.**) Nach langem, bewegtem Schauen steigt er ab zur kleinen Schutzhütte unter dem Gipfel, um sich  zu laben und zu stärken.***)

Wölklein sind indessen aufgezogen, und immer drohender zieht es von Westen heran und schon hört man von den Kirchen der Dörfer das Wetterläuten herauf. Das Gewitter kommt näher, der Donner grollt, Blitze fahren auf und nieder und um die Haltspitze pfeift sausend ein furchtbarem Sturm. "Jetzt schelten die Lauterbacher," sagt der Führer und schüttelt bedenklich sein Haupt. "Was soll das bedeuten?" Da erzählt er, daß nach einer alten Sage auf die Haltspitze drei Bewohner von Lauterbach im Brixentale verbannt wurden, die während des Gottesdienstes wegen der Grenzen ihrer Aecker gestritten hatten. Und als sie sogar während der Wandlung ihren Hader fortsetzten, da erfaßte sie plötzlich ein Windstoß und brachte sie im Fluge auf die Haltspitze. Bei Sturm und Wetter, wenn die Berge widerhallen von den furchtbaren Donnerschlägen, da sagt man, daß die Lauterbacher miteinander schelten und zanken.

Doch das Gewitter hat sich rasch und glücklich verzogen, die schwarzen Wolken senken sich hinter die Berge und nur von der Ferne vernimmt man noch schwach das Rollen des Donners. Der Tourist und sein Führer rüsten sich  zum  Abstieg,  der anfangs  nicht  geringere  Schwierigkeiten zu bieten scheint, als der Aufstieg.  Doch allmählich gewöhnt sich das Auge an den Blick in die furchtbaren Tiefen; vorsichtig auf die Haltbarkeit des Gesteins acht  gebend, geht es abwärts, die  "Maximilianstraße" wird verfolgt, dann eine Kletterei durch die Achselrinne und bald steht man wieder an der Stelle, wo man, von der Roten Rinnscharte herniedersteigend, das überflüssige Gepäck und Pickel  deponiert  hat. Staunend  schaut man zu den Wänden  empor, über die man soeben glücklich herabgekommen ist.  Man steht am oberen Ende der an der   Südseite hinabziehenden, ungemein steilen "Roten Rinne", die mit Recht im Frühjahre wegen ihres Glatteises  und im Sommer wegen der häufig abstürzenden Steine  berüchtigt ist.  Dieselbe läuft durch einen  engen Kamin  auf eine breite Geröllhalde,  das "Hochgrubach", aus, auf welcher man, den Bergstock hinter sich, am besten mitsamt  dem  abrutschenden  Gerölle abfährt. Da mußte man früher hinunter. Seit vielen Jahren aber ist von dem Turner-Alpenkränzchen über die sogenannten "Gamsänger" unmittelbar am südlichen Felsmassiv der Halt ein Steig angelegt worden, welcher die steile, steingefährliche Rinne gänzlich vermeidet und, mit Drahtseilen versehen, sicher zum "Grutten" hinabführt.  Dieser ist eine wellige, teils mit Gestein, teils schon mit frischem Grün bedeckte Hochfläche, von welcher aus sich ein herrlicher Blick auf die schimmernde  Pracht der  Tauern entfaltet und  sich  ein nicht weniger fesselnder Rückblick auf die grotesken Felstürme des Kaisers bietet. Der Grutten birgt einen Schatz, der für den Haltbesteiger von höchstem Wert ist:  das "Gruttenbrünndl", eine kleine, aber kristallhelle, köstliche Hochquelle,  die den müden Wanderer hier ebenso wundersam labt, als wie ihr Gegenstück, das "Mirakelbrünndl", auf der Nordseite.  Schon längst war beabsichtigt, hier eine Schutzhütte zu erbauen, jedoch der Einspruch der Jagdberechtigten wußte das geplante Unternehmen immer zu vereiteln.   Endlich  gelang es den rastlosen Bemühungen des  Turner-Alpenkränzchen,  alle  Schwierigkeiten zu  besiegen, und seit 1900 steht hier eine der schönsten Unterkunftshütten der nördlichen Kalkalpen. In ihr wollen wir von den Anstrengungen und Mühen der Bergfahrt kurze Rast halten. — Von der Gruttenhütte weg zieht westwärts ein Steig unter den Wänden des Scheffauers durch zur Kaiserhochalpe und von da hinab nach Bärenstatt und zum Hintersteinersee, 'während ein zweiter Weg zur Wochenbrunneralpe hinabführt. Man kann aber auch den Grutten nach Osten hin überqueren, passiert neben den abenteuerlich geformten "Gruttenköpfen" eine noch ziemlich steile und Vorsicht gebietende Felsenpartie, und steigt dann in den "Kübel" nieder, wo sich die im Jahre 1899 errichtete Gaudeamushütte der Akademischen Sektion Berlin befindet. Die Hütte wurde 1924 von einer Lawine zerstört und dann wiedererrichtet. Hier senkt sich die breite Geröllstraße vom großen Ellmauer Tor mit ihren fünf "Torriegeln" herab. Selten weht hier ein Lüftchen; es ist glühend heiß, und die beste Gelegenheit, das Schwitzbad des Tages zu vervollständigen. Vergebens schaut der müde Bergsteiger auf das breite Rinnsal eines Baches. Haushohe Steine in demselben belehren ihn, wessen dieser Wildbach fähig ist, wenn tagelange Regengüsse die Schutthalden des Kaisers gesättigt haben oder gewaltige Hochgewitter an seinen Wänden anfallen, aber für gewöhnlich ist kein Tröpflein Wasser zu finden. Lange, lange folgt man dürstend dem wasserleeren Bachbette, endlich — da rauscht und sprudelt es!  "Wochenbrunnen", die pochenden Brunnen! Ja, zu zwanzig und dreißig auf einer etwa fünfzig Schritte langen Strecke schäumen und quellen sie hervor und bilden gleich einen ganz ansehnlichen Bach, Daneben grüne Rasen und moosgepolsterte Steine, welch' ein einladendes Plätzchen!

In zehn Minuten ist die Alpe Wochenbrunn erreicht, wo auch weitere Labung zu Diensten steht. Dann steigt man über den grünen Hügel wieder zum Bache nieder und folgt diesem talauswärts am "Badl" vorüber, wo man eine ehedem geschätzte Heilquelle erfragen kann. Endlich lichten sich die Bäume, die Hügel treten zurück, und man steht auf dem Sattel von Ellmau, der Wasserscheide zwischen Inn und Ache. Links führt der Weg ostwärts nach Going und von dort in 1 ½  Stunden nach St. Johann in Tirol. Rechts leitet der Pfad über grünende Fluren hinüber zum freundlich gelegenen Dorfe Ellmau mit seinen empfehlenswerten   Gaststätten.   Dort  mag  man  sich von des Tages Mühen erholen und, wenn kühle Abendlüfte streichen und die Zinnen der Hohen Halt im Golde der untergehenden Sonne erglühen, dann schaut man wohl gerne wieder hinauf zu dieser stolzen Felsenburg mit ihren unersteigbar scheinenden Wänden, und mit einer kleinen Selbstzufriedenheit   sagt  man  sich:  Da war  ich droben!

*) Das Kreuz wurde im Sommer 1883 von Freunden des Kaisergebirges aus München mit vieler Mühe und nicht geringen Kosten aufgestellt. Im Sommer 1905 wurde das durch Blitzschlag zerstörte Kreuz durch Herrn Jos. Scheurer-München unter vielen Mühen bei heftigem Schneetreiben neuerlich errichtet.

**) Eine umfassende Schilderung der wundervollen Rundschau von der "Hohen Halt" zu geben, würde den Rahmen dieses Schriftchens weit überschreiten ; es sei hier auf das vom D. und Oe. A.-V. herausgegebene Pano- rama, gezeichnet von R. Reschieiter, welches mit einem kurzgefaßten Führer im Verlag von Ed. Lippott in Kufstein  erschienen ist,  hingewiesen.

***) Dieses dem Münchener Turner - Alpenkränzchen gehörige Schutzhüttchen wurde 1890 hauptsächlich von Münchener Alpenfreunden erbaut. Im Sommer 1902 wurde das in der Zwischenzeit zerfallene Schutzhüttchen von genannter Sektion wieder neu errichtet und im folgenden Jahre zu Ehren des verdienten Mitgliedes Karl Babenstuber nach dessen Namen in feierlicher Weise Karl-Babenstuber-Hütte getauft.

Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 65
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Juli 2006.
© digitale Version: www.SAGEN.at .