Vom umgehenden Schuster
In manchen Orten Tirols weicht diese Sage von der üblichen Darstellung insofern ab, als sie den umgehenden Schuster selbst bei der Kreuzigung Christi thätigen [sic] Antheil [Anteil] nehmen lässt. Daher muss er immerfort wandern und kann nicht sterben. Schon ist er das zweitemal auf dem Rundgange um die Welt; hat er diese das drittemal ausgegangen, dann kommt er ins Thal Josaphat [Tal Josaphat], und sein Zauber ist gelöst, es bricht der jüngste Tag herein.
Öfters schon hat man den umgehenden Juden an verschiedenen Orten auch in unserem Vaterlande Tirol gesehen, z. B. in Bozen, Meran, Klausen, Sterzing, Kaltern u. s. w. In Brixen hat man ihn auf der Eisakbrücke [Eisackbrücke] gesehen, wie er gedankenvoll und schwermüthig [schwermütig] ins Wasser hinunterstarrte, Kleider und Schuhe über und über bestaubt.
Zweimal schon war er in Wildschönau, beidemal hat er dort übernachtet, das erstemal beim Lanner und das zweitemal auf Baumgart in der Niederau.
Von besonderem Interesse ist seine Einkehr in Strengen im Stanzerthal.
Es ist schon sehr lange her, wohl tausend Jahre und darüber, seit
das Christusbild des Stopferkreuzes bei Strengen aufgerichtet und
eine Kapelle dazu erbaut wurde, denn das Bild war dem Erlöser ähnlich
und fand alsbald großen Zulauf des Volkes, das zu dem Bilde großes
Vertrauen hatte. Denn gleich dem Christus in Seefeld regte sich des Bildes
Haupt und sank allmählich auf die Brust herab. Die Leute sagen, dass,
sobald das Haupt auf die Knie sinke, der Untergang der Welt nahe fei.
Vor vielen, vielen Jahren gieng auf seiner Weltwanderung der ewige Jude
bei diesem Crucifix [Kruzifix] vorbei, schaute hinauf und meinte, es stünde
ihm der leibhaftige Christus vor Augen, den er ehemals ans Kreuz schlagen
half. Und er stand und stand tiefbewegt davor und konnte sich kaum trennen.
An jenem Tage nun wanderte er nicht weiter, sondern nahm im sogenannten
Hirnhäusel*) Nachtherberge. Weil er aber immer und ewig wandern muss,
legte er sich nicht ins Bett, sondern gieng die ganze Nacht in der Schlafkammer
um den Tisch herum. Am anderen Morgen fanden ihn die Leute schon wieder
beim Stopferkreuz draußen, wie er zum Haupt des Gekreuzigten hinaufstarrte.
Und als es einer wagte, ihn anzureden, da sagte er, dass er noch kein
Bild getroffen, welches Christo so ähnlich sehe wie dieses. Es ward
dem Unglücklichen aber so schwer zu Gemüth [Gemüt], dass
ihm der helle Schweiß über das Angesicht herabtropfte. Da setzte
er sich nieder und wollte einen Augenblick rasten, aber gleich stand er
wieder auf, wie von tödlicher Äugst getrieben, die ihn nimmer
ruhen ließ, fasste seinen Stab und machte sich wieder auf den Weg,
dem Arlberg zu.
*) Jetzt Haus des Anton Triendl.
Quelle: Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf
Heyl, Brixen 1897,
Nr. 37, S. 32f