Schwabenkinder - Die Fortzieher von Grins.
Hans Grissemann.
Gothische Brücke in Grins
Das war ein reges, munteres Leben in dem alten, eine Stunde nordwestlich von Landeck am Fuße der Parseierspitze gelegenen Grins, damals, vor vier- bis fünfhundert Jahren, als noch die Arlbergstraße mitten durch das Dorf führte! Fuhrleute, Praxer und Säumer, Kaufleute und Wanderer zu Fuß und zu Pferd, Ritter und Knechte, mächtige Fürsten geistlichen und weltlichen Standes mit ihrem Gefolge von beutelustigen Söldnern, Gauklern und Spielleuten, brachten Tag für Tag Leben und Verkehr, Arbeitsgelegenheit und guten Verdienst für alle, die ihre Hände regen wollten. Und die damaligen Bewohner von Grins waren nicht müßig; sie verstanden es gar wohl, die Gelegenheit zu nützen. Neben den in jedem Dorf vorkommenden Handwerkern finden wir in dem alten Grins Waffen-, Sensen- und Schellenschmiede, Maler, Kupferstecher, den Glockengießer Johann Reichart und die namhaften Bildhauer Melchior, Michael und Ingenuin Lechleitner, sowie den in Haiming geborenen Jakob Auer. Manche der Bewohner brachten es zu ganz beträchtlichem Wohlstand. Damals bauten die Grinner auch die stattlichen Häuser mit den schönen Freitreppen und stattlichen gotischen Torbogen und Erkern, die durch eine Reihe glücklicher Zufälle uns erhalten geblieben sind und heute noch jeden Kunst- und Heimatfreund entzücken.
Auch das altberühmte Wildbad wurde damals von nah und fern besucht und brachte viele Gäste ins Dorf.
Freilich - das war einmal!
Als das Wildbad durch Murbrüche verschüttet und die Arlbergstraße von der Höhe hinunter ins Tal verlegt wurde, vereinsamten die Gassen und verarmten die Bewohner von Grins. Die Leute drängten sich in den stattlichen Häusern zu zwei und drei Familien zusammen, die Güterzerstückelung nahm immer mehr überhand und die Not zwang die Männer, Verdienst und Brot für die zahlreichen Kinder auswärts zu suchen.
Zur dauernden Auswanderung konnten sie sich nicht entschließen, so blieb nur die zeitweilige.
Noch kaum der Schule entwachsen, zogen die Buben und oft auch die Mädchen der ärmeren kinderreichen Familien als Hütkinder und Kindermädchen ins "Schwabenland". Um Josefi zogen sie fort und um Simon und Juda im Spätherbst kamen sie wieder. Das waren die "Schwabkinder" ["Schwabenkinder"]. Buben, die schon etwas kräftiger waren, wanderten dann mit ihren Vätern und Brüdern alljährlich in die Schweiz oder an die Gestade des Bodensees, die Jungen als Handlanger, die Alten als Maurer 1).
1) Von der Nachbargemeinde Strengen wanderten viele als Zimmerleute in die Schweiz, von Pettneu auch manche als Gipser (Stukkateure) in das benachbarte Bayern.
Bauernhaus in Grins
Von diesen "Fortziehern" oder "Fremdgienern" soll heute einiges erzählt werden, so wie ich es aus dem Munde eines alten Grinners, des Maurermeisters Herrn Alois Sieß, gehört habe, der selbst noch durch Jahrzehnte "in die Fremde ging" und sich vom Schwabenkind und Mörtelbuben aus eigener Kraft zum geachteten Meister emporarbeitete.
Wenn ich bei dieser Schilderung auch mehr die Grinner Verhältnisse im Auge habe, so gilt das Gesagte doch auch für die Nachbardörfer und -täler. Ähnlich wie in Grins, lagen die Verhältnisse wohl auch in den meisten übrigen Dörfern des Bezirkes Landeck, besonders aber im benachbarten Stanzer- und Paznauntale. Die wenigen und mageren Äcker konnten die Bewohner nicht ernähren, an einer passenden Heimarbeit und ausreichendem Verdienste fehlte es gänzlich, und so war ein Großteil der männlichen Einwohner gezwungen, auswärts Verdienst zu suchen.
In den alten Kirchenbüchern von Grins aus dem 17. Jahrhundert finden wir nicht selten Bemerkungen, daß dieser oder jener Jüngling aus Grins in Ungarn, in Steiermark oder in Polen und im Rheinland gestorben sei, wo er als Maurer sein Brot suchte. In den Verfachbüchern finden wir Lehr- und Geburtsbriefe für Leute von Grins, die sich in der Fremde "haushäblich" niederlassen wollten.
Noch vor fünfzig Jahren wanderten manche Männer aus Grins bis nach Steiermark und Südungarn alljährlich auf Arbeit und waren Vierzehn Tage und länger auf der Reise.
Seit 1870 wandte sich der Großteil der Grinner Fortzieher aber immer mehr der Schweiz und dem deutschen Ufer des Bodensees zu, nur einzelne gingen nach Frankreich, besonders nach Belfort und Umgebung.
Damals zog der dritte Teil der männlichen Einwohner von Grins jedes Frühjahr in die Fremde.
Jüngere, ledige Männer schnürten ihr Bündel schon vierzehn Tage früher, die Verheirateten halfen vorher noch ihren Weibern beim Frühjahrsanbau und folgten dann anfangs oder Mitte April nach.
Besonders den letzteren fiel der Abschied oft recht schwer und mancher mußte sich das Reisegeld, die "Zöhri", 6 bis 7 Gulden, bei einem guten Freunde erst borgen.
War dann das Felleisen 2) mit den wenigen Habseligkeiten gepackt und von den Nachbarn Abschied genommen, dann ging es am nächsten Morgen allein oder in Gesellschaft einiger Wandergenossen zum Dorf hinaus. Die Frauen gaben ihren Männern und die Mädchen ihren Buben noch ein weites Stück Weges das Geleite. Da trugen dann die Weiber und Mädchen das Felleisen.
2) Das Felleisen war meist eine hölzerne Kiste, ähnlich wie sie die Pfannenflicker und Hausierer an ledernen Riemen auf dem Rücken trugen.
Im zweiten oder dritten Nachbardorf, das am Wege lag, wurde dann noch eingekehrt und ein Glas Wein auf glückliche Heimkehr getrunken. Dann kam der schwere Augenblick des Abschieds. Es entsprach ganz dem herben, tiefgläubigen Wesen des Oberländers, daß er den letzten Händedruck mit seinen Lieben nicht vor Zeugen im Wirtshaus tauschen wollte. Man ging lieber noch ein Stücklein mitsammen weiter bis zur nächsten Wegkapelle vor dem Dorf. Dort wurde dann "pfüatet" 3). Daß es dabei besonders bei den Frauen und Mädchen nicht ohne "Reahra" (Weinen) abging, ist wohl leicht begreiflich. Man nannte darum auch solche Kapellen, wo der Abschied regelmäßig stattfand, "Reahrkappala". Solche "Reahrkappala" gibt es im Oberland noch manche. Eines steht östlich von Zams an der Straße gegen Schönwies, eines in Fließ am Weg nach Landeck, eines mit einer recht schönen Statue der "Schmerzhaften" am Zainisjoch, bis wohin die Weiber von Kappl ihre Männer begleiteten.
3) "Pfüat (behüt) Gott!" gesagt.
Die Frauen von Grins gingen mit ihren Männern über Strengen, Flirsch und Schnann bis zur "Reitrinne" vor Pettneu und haben dann auf dem Heimweg beim "Seelenzoll", einer Wegkapelle außer Schnann, noch ein recht kräftiges Vaterunser für die glückliche Heimkehr ihrer Männer gebetet. Es war auch ein sehr schweres Los, das die Weiber daheim erwartete. Sie mußten nicht nur den ganzen Sommer über mit ihrer meist recht vielköpfigen Kinderschar ohne Vater fertig werden, auch alle Arbeit in Haus und Stall, auf Acker und Wiese mußten sie bei meist recht magerer Kost allein besorgen, wenn nicht ab und zu ein mitleidiger Nachbar aushalf; Bargeld war gewöhnlich keines im Hause und erst wieder im Spätherbst bei der Heimkehr des Mannes zu erwarten. Es wäre ganz gegen den "Brauch" gewesen, wenn der Mann während des Sommers Geld geschickt hätte. Die sauer verdienten Fränklein hielt er hübsch beisammen bis zur Heimkunft. Auch daß sich Mann und Frau den Sommer über öfters schriftliche Nachricht schickten, kam nur selten vor. Ansichtskarten gab es damals nicht und einen richtigen Brief zu schreiben, entschloß man sich nur in den dringendsten Fällen. Der Mann in der Fremde und das Weib daheim hatten das gleiche Ziel: man mußte schinden und sparen, daß ein hübsches Sümmchen zusammenkam. Da hieß es für Weib und Kinder daheim schmal abbeißen; nur das unumgänglich Notwendige wurde gekauft und Krämer und Handwerker mußten warten, bis ,,er" 4) wieder heimkam.
4) Im Volksmund heißt es nicht "mein Mann, meine Frau", sondern "sie" oder "die mei", wenn der Mann von seiner Frau spricht, und umgekehrt "er" oder "der mei" mit nasalem ei.
Während die Frauen heim nach Grins gingen, schritten die Männer tapfer in entgegengesetzter Richtung weiter mit dem Felleisen auf dem Rücken und dem derben Stock in der Hand. Unterwegs traf man wohl Weggenossen aus einem Nachbarorte und so ging es dann am gleichen Tag über den um diese Jahreszeit noch tief verschneiten Arlberg bis Klösterle, dem ersten Dorf in Vorarlberg. Auf der Paßhöhe vergaß man nicht, beim wundertätigen St. Christoph noch vorzusprechen. Der alte Patron der Wanderer wird dort seit Heinrich Findlkinds Zeiten verehrt, und mancher Fortzieher schnitt sich als Talisman gegen das böse Heimweh einen Splitter von der überlebensgroßen Statue des Heiligen und verwahrte das kleine Ding in dem mageren Geldbeutel.
In Klösterle nächtigte man und wanderte am nächsten Tage weiter bis Feldkirch, der zweiten Nachtstation. Manchmal gelang es einem Fortziehertrupp, um billigen Lohn einen Leiterwagen zu mieten, der dann die Wanderer oder wenigstens das Felleisen bis Feldkirch beförderte. Dort teilten sich dann die Wege. Ein Teil der Auswanderer zog den Rhein aufwärts in die Gegend von Chur, andere fanden schon in den nahen Kantonen Glarus, Appenzell oder Thurgau lohnende Beschäftigung, manche wandten sich in die Kantone Zürich und Aargau, während andere wieder die katholischen Urkantone bevorzugten und ein Teil über Bregenz ins Schwabenland zog. Sehr häufig arbeiteten die Leute jahrelang beim gleichen Meister und es herrschte ein sehr schönes Vertrauensverhältnis zwischen Meister und Arbeitnehmer. Nicht selten kam es vor, daß der Sohn der gleichen Firma diente, wo schon der Vater viele Sommer gearbeitet hatte. Jüngere, wanderlustige Gesellen kamen freilich oft erst nach längeren Irrfahrten zur Seßhaftigkeit. Verhältnismäßig selten leisteten sich die Maurer den Luxus eines eigenen Zimmers oder auch nur einer Schlafstelle in einem Privathaus; gewöhnlich schliefen sie in Partien zu zwanzig und mehr Personen in einer Baracke.
Bauernhaus in Grins
Sie bildeten den Summer über eine große Familie. Einer von ihnen wurde zum Koch bestimmt. Der hatte dann, während die andern auf den Bau zur Arbeit gingen, die notwendigen Lebensmittel einzukaufen und zu kochen. Jeder Mann zahlte 50 bis 60 Rappen pro Tag in die gemeinsame Menagekasse und kaufte sich zur Jause um 20 Rappen Brot. Früh und abends gab es in der Gemeinschaftsküche Kaffee, mittags Suppe, Rindfleisch und ausgiebiges Gemüse. In früherer Zeit habe man auch manchmal die Suppe gemeinsam aus großen Schüsseln gegessen. Damit keiner zu früh beginne und so die andern übervorteile, sei dann, wenn alles seinen Platz und Löffel hatte, gezählt worden: Eins, zwei, drei! Dann erst habe der Angriff auf die Spätzlesuppe begonnen. Die Jungen im Alter von 14 bis 17 Jahren dienten um geringen Lohn als Pflaster- oder Mörtelbuben, dann rückte man zum Handlanger und, je nach Fleiß und Geschicklichkeit, in ein bis drei weiteren Jahren zum Maurer vor. Eine streng festgesetzte Lehrzeit gab es damals unter den Auswanderern nicht. In den Jahren 1870 bis 1871 verdiente ein Maurer im Tag 1 fl. 10 kr. bis 1 fl. 40 kr., im Jahre 1873 schon über 2 fl. (1 fl. = 60 kr.). Ein Mörtelbub brachte es auf 40 bis 50 kr. Taglohn. In der Schweiz wurden durchschnittlich bessere Löhne gezahlt. Ein Handlanger erhielt 3 Franken, ein Maurer 4 bis 5 Franken und bei Akkordarbeit auch mehr.
Wenn ein Arbeiter sehr sparsam lebte und den ganzen Sommer und Herbst über Beschäftigung hatte, konnte er bis zu seiner Heimkehr um Weihnachten 700 Franken zusammenbringen. Das war nach damaligen Begriffen schon eine recht hübsche Summe Geldes. Die Ehemänner mußten dann nach ihrer Heimkunft die rückständigen Steuern und Zinse für ihr oft recht verschuldetes Anwesen und die Rechnung beim Krämer und den Handwerkern bezahlen. Was dann noch übrig blieb, mußte bis zur neuen Ausreise im Frühjahr reichen. Die jungen, ledigen Burschen gaben einen Großteil ihres Sommerlohnes ihren Eltern, der Rest blieb ihnen als Taschen- und Tabakgeld.
Die Zeit der Heimkehr war aber nicht so genau festgesetzt, wie die der Ausreise, wo ja meist die Not schon zu möglichst zeitigem Aufbruch drängte. Ein fleißiger Arbeiter blieb möglichst lange fort, solange er eben Arbeit und Verdienst fand. Das war freilich sehr verschieden, je nach Witterung und Bautätigkeit in der betreffenden Gegend; es spielten da auch die jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse eine große Rolle.
Eine allzufrühe Heimkehr galt als wenig ehrenvoll. Wer schon lange vor den andern heimkam, war arbeitsscheu und wenig tüchtig. Manchen mag wohl das Heimweh früher heimgezogen haben. Das ließ man aber nicht als Entschuldigung gelten. Er wurde dann von seinen Arbeitsgenossen und Nachbarn den ganzen Winter über verlacht. So hörte ich oft erzählen, ein solch früh Heimgekehrter sei gefragt worden: "Ja, Honneslois, warum bist denn du so früh heimgekommen?" Darauf habe er ganz ernsthaft geantwortet: "Mir ist es zu langweilig geworden im Schwabenland. Da ist alles so eben, daß du, wenn du am Sonntag willst auf der Wiese ein Mittagsschläfchen machen, mußt einen Polster mitnehmen!" Da hatte er's daheim in Grins freilich viel bequemer. An hübschen Plätzchen, wo man ungestört und ohne Polster seine Sonntagsruhe halten und dabei noch die Aussicht auf die schöne Bergwelt genießen kann, ist wahrlich kein Mangel.
Aber auch solche, die gar nicht heimkehrten und auch den Winter über in der Fremde blieben, standen in üblem Ansehen, wenn sie nicht etwa sich in der Schweiz verheiratet und dauernd niedergelassen hatten, was unter den Grinner Auswanderern verhältnismäßig selten vorkam. Ein lediger Bursche, der nicht heimkam, galt als ein lockerer Vogel, der nicht arbeiten oder nicht sparen konnte und nicht einmal das nötige Geld für die Heimreise aufbrachte. Solche Leute zählten zu den Sorgenkindern der Gemeinde. Man konnte mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß sie, und wenn sie gar noch heirateten, auch ihr Anhang, früher oder später der Armenversorgung des Dorfes zur Last fielen.
Einzelnen aus Grins und den Nachbardörfern gelang es, durch Fleiß und Tüchtigkeit emporzukommen und sich dann als Polier oder Maurer- bzw. Zimmermeister in der Fremde ansässig zu machen. Diese gelangten dann meist zu großem Wohlstand und bildeten den Stolz ihrer Heimatgemeinde. Manche von ihnen zog das Heimweh aber in den alten Tagen wieder in ihr armes Geburtsdorf zurück.
Gasthaus in Grins bei Landeck.
Photographie von A. Stockhammer, Hall in Tirol
Die langen Winterwochen mit den zahlreichen Fest- und Feiertagen boten den Heimkehrern reichlich Gelegenheit zum Ausrasten. Wenn bei günstigem Schlittweg das Holz und Heu heimgebracht und der Mist auf die Felder gebracht ist, gibt es neben dem bißchen Holzspalten an sonnigen Wintertagen und der Versorgung des Viehes für die Männer wenig Arbeit. Da blieb dann immer noch viel Zeit zum Liegen auf der Ofenbank oder zum Heimgarten und Kartenspiel in Nachbarhäusern. Ins Gasthaus ging man an den Werktagen in der Regel nicht. Wer das tat, geriet bald in den Ruf, ein Lump zu sein oder zu werden. An Sonntagen standen nach Predigt und Amt, das alle besuchten, auch die Fortzieher neben den übrigen männlichen Dorfbewohnern alter Sitte gemäß noch ein Weilchen auf dem Kirchplatz beisammen. An der besseren Kleidung und am Schwiezerdütsch, das manche neben einigen französischen Brocken in ihre Rede flochten, konnte man die Heimkehrer leicht erkennen. Manche aus ihnen rauchten auch schon bei so feierlichen Anlässen eine Zigarre, während sich das arme Heimbäuerlein noch mit Zunder und Feuerstein sein Pfeifchen anbrannte. Nach kurzer Zeit leerte sich aber dann der Platz; alles strebte heimwärts zu den Speckknödeln und dem Geselchten mit Kraut.
Am Nachmittag und Abend waren dann die drei Wirtshäuser von Grins gut besucht. Man blieb aber nicht allzulange und hielt sich im Trinken mäßig. Nur ein paar Schnapslumpen dehnten ihren Besuch länger aus. Das scheint freilich nicht in allen Nachbardörfern so gewesen zu sein und mancher der jüngeren Maurer verjubelte am Wirtshaustisch mit Großtun und Trinken den sauer verdienten Sommerlohn. Dieser Umstand mag den damaligen Kuraten Lindenthaler in Kappl zu einer recht eindringlichen Sonntagspredigt 5) im Stile Abrahams a Santa Clara veranlaßt haben, in der er die Fortzieher "Wintergrafen, Langetsbettler, Sommerlauser" betitelte.
5) Sie wurde seinerzeit in der Imster "Landzeitung" abgedruckt. Vielleicht ist einer der Leser so freundlich, sie den "Heimatblättern" zum Abdruck einzusenden.
Zum Schluß mag noch eine andere Gattung Saisonauswanderer Erwähnung finden, die auch beim heutigen Geschlecht beinahe in Vergessenheit geraten sind. Ich habe in meiner Jugend selbst noch einige arme Weiber in Grins gekannt, die zur Erntezeit zum "Ücheren" auf zwei bis drei Wochen ins Schwabenland pilgerten. So um Iakobt herum wanderten sie in vier bis fünf Tagen zu einem Bauern ins Schwabenland und verdingten sich dort für die Zeit der Kornernte als Arbeiterinnen, je eine bei einem Besitzer. Einen halben Tag mußten sie dem Bauern bei der Arbeit helfen, den andern Halbtag durften sie für sich verwenden und auf dem Acker die zurückgebliebenen Ähren (Öcher, Ücher, Ücheren) sammeln. Bei großem Fleiß brachte dann so eine Ücherin im ganzen vier bis fünf Streichmaß (4 Streichmaß = 72 kg) Körner zusammen. Mit dem Erträgnis ihrer Arbeit zogen dann die Weiber wieder heim.
Reahrkapelle bei Grins
Erst seit dem Bau der Arlbergbahn, die vielen Einheimischen Brot und manchen dauernde Anstellung brachte, und seit der Erbauung der Fabriken in Flirsch und Landeck nahm die Saisonauswanderung allmählich ab und seit Ausbruch des Weltkrieges ist sie gänzlich verschwunden. Auch der jährlich wachsende Fremden- und Touristenverkehr, der Bau mancher Gaststätten und zahlreicher Schutzhütten brachte vielen jungen Männern lohnenden Verdienst als Maurer, Träger, Bergführer, Hüttenwart u. dgl. und trug so auch wesentlich zum Aufhören der Auswanderung bei.
Quelle: Hans Grissemann, Die Fortzieher von Grins, in: Tiroler Heimatblätter, 4. Jahrgang, Heft 5/6, Mai/Juni 1926, S. 165 - 172.