Ein Höhlenmensch der Neuzeit.
Von Paul
R. Greußing.
Unweit der Landeshauptstadt Innsbruck, dort, wo die wegen ihrer Bogenweite und Höhe weltbekannte Stephansbrücke den gletschergeborenen Ruetzbach überbrückt, führt ein steiler Fußpfad ins herrliche Stubaital. Die wilde Saile und die pyramidale Serles oder Waldrastspitze sind die gewaltigen Torhüter dieses unvergleichlich schönen Tales, in dessen Einsamkeit heuer die welschen Bahnarbeiter eingedrungen find. Schon am 30. Juni 1904 wird der erste, vermittelst Elektrizität betriebene Zug den eisenindustriereichen Ort Fulpmes mit Innsbruck verbinden.
In einem von der Straße und den Fußwegen abseits gelegenen
Walde am Eingange des Stubaitales lebt seit drei Jahren ein "moderner
Höhlenbewohner". Derselbe wurde 1846 im Oberinntal als Sohn
eines
Bauers geboren. Das Büblein kam Ende der fünfziger Jahre ans
Gymnasium, jedoch zeigte der junge Musensohn bereits in den oberen Kursen
mehr Anlage zum Maler als zum Gelehrten. Nach längeren Universitätsstudien
bezog er die Künstlerakademie in München. Dort erregte er nicht
nur durch sein ungewöhnliches Talent, sondern später auch durch
allerlei Eigenheiten die allgemeine Aufmerksamkeit. "Der Mensch soll
zurück zur Natur" war die Losung aller seiner Handlungen. Diese
Ansicht verfocht er nicht in Worten allein, auch seine Erscheinung trug
den Stempel davon. So ging er bei hellem Tage nacktfüßig in
München herum. Da die dazumalige Zeit aber diese "Kneippkur"
nicht anerkannte, wurde er als Irre interniert. Jedoch schon nach kurzen
Wochen mußte er aus der psychiatrischen Anstalt entlassen werden,
da die Herren Ärzte ihn eher für ein "Genie" als einen
"Narren" zu erklären sich bewogen fanden.
Als ihm die Polizei aber im Interesse des öffentlichen Anstandes seine Extravaganzen einstellte, wurde er durch diese behördliche Verfügung in einer Weise aufgeregt, daß er München verließ und in einem bayrischen Walde als Höhlenmensch lebte.
Unbezwingliche Freiheitssehnsucht, die sämtliche von der Kultur aufgestellten Sittenregeln überwucherte, ward zur Ursache seines Unterganges für die moderne Kunst! Beinahe zwanzig Jahre verbrachte er in Bayerns Waldeinsamkeit, bis man ihn endlich 1869 als Fremdländer auswies.
Er kehrte nach Tirol zurück und nahm seinen Aufenthalt im Stubai.
Der Höhlenmensch im Stubaital
photographische Aufnahme von N. Lechner, 1904
Seine jetzige Wohnung erzeugt einen ganz eigentümlichen Vorweltsbewohnereindruck. Ausgehauene Stufen führen über Felsengrund zur Höhle empor, die sich wie ein Lämmergeiernest ausnimmt. Winter und Sommer bewohnt der seltsame Einsiedler diesen Ort und lebt von Schwämmen, Beeren und Schnecken. Er verfertigt kleine Blumenkörbe, welche er an die Touristen auf der Landstraße verkauft. Dieser Erlös bringt ihm die Winternahrung ein. Seine Bekleidung gleicht der eines amerikanischen Fallenstellers, und graublondes Haar umwallt wie eine Löwenmähne sein charakteristisches Haupt. Er zeichnet und malt Bilder, die sich durch die Frische der Auffassung vornehm ausnehmen und mehr als Dilettantentalent verraten.
Was seine Ansichten betrifft, so ist er ausgesprochener Freiheitsidealist, der jede Beschränkung des eigenen "Ich," sei es durch Kultur, Sitten oder Religion haßt. Gesetz ist ihm das Gefühl des eigenen Herzens. Er verachtet sogenannte "gesellschaftliche Ehre und Rang", denn jeder Mensch ist aber nur - Mensch! Auch verachtet er diejenigen, welche des "schnöden Geldes" halber den Rücken beugen und sich selbst zum Knechte erniedrigen. Die "freie Liebe" jedoch, im edlen Sinne, verehrt er, verdammt aber die Prostitution gegen Bezahlung. Es existieren viele Einsiedler, diese sind aber fast ausnahmslos vom Religionswahn erfaßte Personen oder Schlauköpfe, welche um Gebete "Butter und Schmalz" einhandeln; unser Höhlenmensch aber ist Original, er hat seine eigene Herzensreligion, und diese bietet trotz seiner exzentrischen Lebensauffassung große Züge, die auf einen Heldengeist schließen lassen! Er ist ein Dichter, der seine Worte nicht niederschreibt, sondern selbst durchlebt! Wir wollen seinen Namen verschweigen, da dies die Bedingung war, unter welcher er sich photographieren ließ.
Die bäuerliche Bevölkerung der Umgegend hält ihn für einen Hexenmeister, die wenigen Gebildeten, denen sein Aufenthalt bekannt ist, nennen ihn verrückt. Es läßt sich natürlich nicht bestreiten, daß der gute Mann geistig abnormal ist, aber in seiner "Narrheit" liegt Philosophie. Virgenes würde von der modernen Welt ja auch "pathologisch" erklärt worden sein.
Zum Schlusse sei ein Vers des einsamen Sonderlings wiedergegeben:
"Sie stieben und streiten bei Tag und bei Nacht
Und geben sich schrecklich viel Mühe!
Sie schlucken die "Brocken" ganz unbedacht
Und schlürfen behutsam die Brühe . .!
Quelle: Ein Höhlenmensch der Neuzeit, Paul R. Greußing. In: Österreichische Alpenpost, Illustrierte Halbmonats-Zeitschrift aus den Ostalpen, 6, 1904, Nr. 5, S. 102 - 103.