Riese Serles
Hoch ragen drei Felszacken spitzig und steil über der Brennerstraße, die von Innsbruck empor führt, und sind schon vom Innthale sichtbar. Einst lebte ein "Wilder", oder ein Riese, als ein gewaltiger Bergkönig im Thale der Sin, der von außerordentlich roher Gemüthsart war, nicht minder war sein Weib eben so geartet, und sein Geheimrath taugte noch weniger. Der König war ein eifriger Jäger, ganz so wild, wie nord- und westdeutsche Sagen den "wilden Jäger" schildern; nichts freute ihn, als Rosse, Hunde und Jagen. Wenn er einem fliehenden Hirsche auf der Spur war, so kümmerte es ihn nichts, durch weidende Heerden auf den Alpentriften zu sprengen, zumal wenn das verfolgte Thier sich unter diese mischte, und von seinen blutgierigen Hunden alles zerreißen zu lassen. Die Hirten durften gar nicht viel Redens machen, sonst wurden sie ebenfalls von den angehetzten Fangbunden zerrissen. Der Riese, dessen Name Serles war, schrie dazu: "Lustig Gejaid!" und weder Menschen noch Thiere waren ihres Lebens sicher. Der Königs Weib und des Königs Rath begleiteten stets den König Serles auf seinen wilden Jagdritten.
Als einstmals wiederum ein solcher Ritt stattfand, und die Hunde nicht nur den verfolgten Hirsch, der sich unter eine Kuhherde geflüchtete hatte, niederrissen, sondern auch die Heerde mit wüthenden Bissen anfielen, so suchten die Hirten die Hunde abzuwehren, ja einer derselben ergriff eine Armbrust, legte den scharfen Bolzen auf und schoß einen der Hunde des Königs Serles nieder. Darob ergrimmte der König über alle Maaßen, hetzte, angestachelt von seinem bösen Weibe und seinem argen Rathgeber, die ganze Meute auf die Hirten, und ließ sie zerfleischen, während er laut lachte - darüber aber ergrimmte Gott - es entstand in der Luft ein Brausen und Sausen und ein entsetzliches Ungewitter, und als das vorbei war, so war vom König Serles, zur Rechten sein Weib, zur Linken sein Rath. In Wetternächten aber hörten oft Fuhrleute, welche mit ihrem Frachtfuhrwerke die Brennerstraße zogen, das Kliffen und Klaffen vieler Hunde - und bei Gewittern sieht man häufig Blitze auf jene drei Felsriesen niederfahren.
In ganz ähnlicher Weise lebt diese Sage auch im bayrischen Hochlande.
Auch der Watzmann war ein solcher Gebirgsriese und König, und steckt
nun seine starren Zacken, in die er, sein Weib und seine sieben Kinde
ob gleicher unmenschliche Muth und Grausamkeit von der göttlichen
Gerechtigkeit verwandelt wurde, eis- und schneebedeckt zum Himmel.
Quelle: Mythen und Sagen Tirols, gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Zürich 1857, S. 34f