DIE WILDEN VOM KOCHENTAL

Wie viele Jahre mag es wohl her sein, dass der Inn über den Zimmerberg, den Schießstand7, Birkenberg, Brand und Bairbach geflossen ist? Wieviel Tausende von Jahren werden vergangen sein, seit der See verschwunden ist, der vom Klausbach bis zum Längenberg gereicht hatte und dessen Grund die heutigen Felder von Telfs, Pfaffenhofen und Oberhofen bildet? Ja, damals stand noch kein einziges Haus, nicht einmal eine Hütte in Telfs und seiner weiten Umgebung. Kein Berg hatte einen Namen, das unwegsame Gelände war weder von Straßen noch von Steigen durchzogen, alles war steiniger, sandiger Boden, bedeckt von undurchdringlichem Gebüsch aus Erlen und Weiden. Die Gewässer waren reich an Fischen, Scharen von Vögeln belebten den Himmel, Insekten durchschwirrten die Luft und mächtige Raubvögel zogen ihre Kreise über dem Land. Es war die Zeit des Urs und des Wisents, des Höhlenbären und des Höhlenlöwen und nicht zuletzt des riesigen Mammuts.

Menschen hatten sich bereits in der Wildnis unsrer Berge niedergelassen. Durch Kampf und Streit verfolgt, waren sie entlang der Wasserläufe, den damaligen Verkehrsstraßen, ins Gebirge geflüchtet. Auch an der Munde sollen Menschen gehaust haben, ein Menschenschlag, der schon lange nicht mehr existiert. Groß von Wuchs, mit breiten Schultern und ungeheurem Haar- und Bartwuchs, dass es aussah, als ob ihre Körper ganz und gar mit Haaren bedeckt wären. Sie lebten in Familien zusammen in den Höhlen der Berge, vor allem in denen der Munde und des Kochentales. Jagd und Fischfang versorgten sie mit Nahrung. Doch war es für den Waldmenschen oft schwer, großes Wild zu erlegen und gerade großes, dickhäutiges Wild brauchten sie, um für ihre Höhlen warme Unterdecken herzustellen und um ihre Behausungen vor den von oben eindringenden Wassertropfen zu schützen.

Denn es war kalt. Unsere Berge waren oft bis zur Waldgrenze mit Schnee und Eis bedeckt. Zum Schutz gegen die Kälte hüllten sich die Wilden in Tierfelle und rieben oft zwei Holzstücke aneinander, um auf diese Art und Weise ein Feuer für ihren Herd zu entfachen und ihre Höhlen zu wärmen.

Mehrere Familien wohnten in den Höhlen des Kochentales und Ulf war der kräftigste und furchtloseste unter ihnen. Manchen Zweikampf hatte er schon bestanden mit dem Riesenhirschen, dem Auerochsen, dem Höhlenlöwen und zottigen Höhlenbären. Er bewohnte mit seinem Weib Lin und einigen Kindern eine große Höhle in der Nähe des "kalten Rohres".

Er war das Oberhaupt der Ansiedlung dieser Waldmenschen und der Beherrscher des gesamten schwachbevölkerten Gebietes. Da trug es sich eines Tages zu, dass unten am Inn an mehreren Stellen Rauch aufstieg.

"Ulf, sieh was dort ist, dort steigt Rauch auf!" riefen seine Mannen.

"Der Sonnenbrand hat das dürre Gesträuch in der Aue entzündet, oder es hat gestern der Blitz dort eingeschlagen und gezündet", entgegnete Ulf, mit der breiten Hand seine Augen beschattend.

"Ulf, hörst du, Hörnerschall, so, wie du es aus deinem Horn ertönen lassest, wenn's zur Jagd geht, so wie du das Wisenthorn reden machst, wenn sie wiederkommen, die Feinde von unten oder von oben. Es ist nicht Brand in der Aue, es sind Menschen dort, fremde Menschen. Ulf, befiehl, und wir schleichen an die Feuer und kundschaften aus!"

Und Ulf gab den Befehl und schlich selbst an der Spitze seiner Getreuen in die Aue, durchschwamm mehrere Tümpel des Flusses, durchkroch das dichte Gestrüpp und scheuchte manchen Vogel in die Luft. Erschreckt wie noch nie in seinem Leben, blieb er hinter einer dichten Baumgruppe stehen und blickte wie versteinert in die Aue.

Menschen sah er, kräftige Menschen, viele Menschen, mit weißer Haut und rotblonden Haaren, die bis über den Nacken reichten. Die Fremden trugen eigenartige Kleidung, keine Tierfelle. Sie hatten um die Mitte Gürtel von Gold und Silber und an den Armen trugen sie Reifen, glänzend wie die Sonne. Ihre bunt bemalten Schilde waren mannshoch, sodass sie sich dahinter verstecken konnten. Sie trugen lange Schwerter aus Eisen und Lanzen mit handbreiten Spitzen, die, wenn sie sie warfen, in den Bäumen stecken blieben. Tiere sah Ulf noch, Tiere, die er noch nie gesehen hatte - Pferde.

Lautlos, wie Ulf gekommen war, schlich er zurück, seine Begleiter den Ruf des Uhus hören lassend, was soviel heißen sollte wie: Kommt lautlos zu mir in die Höhle.

"Freunde", sagte Ulf dann, "Schreckliches habe ich gesehen, neue Menschen, ganz fremde Menschen, zehn mal zehn soviel, als ich Finger habe. Gehet rasch in eure Höhlen und sorget, dass alle Feuer ausgelöscht werden, dass ja kein Rauch aufsteige oder nachts ein Feuerschein sichtbar werde, sonst finden uns die Fremden! Dann kommt wieder zu mir und ich werde euch erzählen, was ich alles gesehen habe."

Und er erzählte ihnen von den neuen Menschen, von ihrer Bewaffnung mit langen Speeren und treffsicheren Pfeilen, von den scharfen Steinbeilen aus Serpentinstein, von ihrer Kriegslust, von den Kleidern und dem Schmuck und gar erst von Schwert und Schildern und den flinken Pferden.

Anderntags stiegen Ulf und die Seinen hinauf bis an den Waldrand, von wo aus sie eine bessere Übersicht über das Tal hatten. Sie sahen ganze Herden von Pferden, sahen ein ganzes Heer von Menschen und sahen auch, dass diese Hütten bauten, ein Zeichen der beginnenden Niederlassung.

"Lin, meine liebe Lin, ich fürchte, dass unser friedliches Leben zu Ende gehen wird. Wenn so viele Menschen im Tal Wohnung nehmen, dann kommen sie sicher auch auf unsere Berge und finden unsere Höhlen. Kommt es zu Kampf und Streit, so sind wir verloren, denn die da unten haben gute Kampfrüstungen!"

Es kam aber nicht zu Kampf und Streit, denn die wilden Waldmenschen waren wohl gesinnt den Guten, bestraften aber auch das Böse nach ihrer Art.

Sie kamen nun öfter ins Tal als in früheren Zeiten. Obwohl die Kelten - so hießen die Neuankömmlinge - eitel, übermütig, prahlerisch und kriegsmutig waren, so taten sie den 'Wilden' dennoch nichts zuleide, denn diese waren gutmütig, nachgiebig und friedfertig.

Jahr um Jahr war vergangen. Die Wilden waren häufiger bei den Kelten als zu Hause, gewöhnten sich an die Sitten und Gebräuche und erlernten sogar deren Sprache. So kam es, dass die alten Wilden ausstarben, und die Nachkommen sich mit den Kelten vermischten. Schließlich blieb von ihnen nichts mehr als die Sage.

Schleicer und Wilde Mann©Berit Mrugalska
Bronzerelief am Aufgang zur Pfarrkirche Telfs, Tirol
rechts ein "Schleicher" und links ein "Wilder Mann"

© Berit Mrugalska, 4. Dezember 2004

 

Im Telfer Schleicherlaufen tauchen diese Waldmenschen jedesmal wieder als "Wilde" auf, und sorgen für Ordnung, Frieden und Einigkeit.


Quelle: Mei'r Huamat, Marktgemeinde Telfs, 1997
© Der Text wurde dem Buch "Mei'r Huamat" entnommen. Alle Rechte liegen bei der Marktgemeinde Telfs, Untermarktstr. 5 + 7, A-6410 Telfs. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden."