Der Geist auf Rettenberg
Auf Schloß Rettenberg herrschte einst ein hartherziger Vogt. Der lebte mit seiner stolzen Gemahlin nur dem eigenen Nutzen und ließ durch seine Diener alle Armen von der Torschwelle jagen, die ihren Hunger zu stillen oder ihre Not zu lindern, um ein Almosen baten. Keine Klage durfte sein Ohr erreichen; Knecht oder Magd, die seinem Befehle zuwiderhandelten, stieß er unnachsichtlich aus dem Dienst, selbst wenn sie ihm ein Leben lang treu gedient hatten; und die Vogtin gab ihm an unerbittlicher Härte nichts nach. Zur Sühne fand das böse Paar nach seinem Ableben keinen Grabesfrieden. Tag und Nacht mußte es im Schlosse umhergeistern, und als das mit der Zeit in Trümmer brach, irrte es Tag und Nacht durch das verfallende Gemäuer. Es soll bis auf den Tag keine Erlösung gefunden haben.
Burgruine Neurettenberg, Kolsassberg (Tirol)
© Berit
Mrugalska, 24. April 2005
Es geschah nun im Laufe der späteren Jahre, daß
eines Sonntags zwei Weerer Bauern an den Schloßruinen vorbeigingen.
Da trat aus dem verfallenen Tore eine Frau, angetan mit einem altertümlichen
Gewande, ein Bund rostiger Schlüssel in der Hand, und herrschte sie
mit harter Stimme an: "Was sucht ihr hier ?" "Nichts, nichts",
stammelten sie erschrocken und wollten weiter ihres Weges ziehen. Allein
die Frau trat ihnen entgegen und fuhr sie zornig an: "Alles hättet
ihr euch wünschen dürfen, wonach immer euer Herz verlangen mag!
Geld und Gut und ein langes Leben, alles war euch in Erfüllung gegangen.
Geht und rackert euch weiter! Geht! Geht!" Beim letzten Wort peitschte
ein dröhnender Schlag durch die Trümmer des Schlosses, als würde
da eine Eisentüre mit ungeheurer Gewalt zugeworfen, und urplötzlich,
wie aufgesogen von der Luft, war das Weib verschwunden.
Quelle: Sagen aus
Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg.
In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg
und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.