DER GLUNGETZER RIESE
Weit hinten im Voldertal, wo der Glungetzer sein graues Haupt stolz in die Wolken aufreckt, lag einst eine liebliche Alm. Dort hatte ein friedlicher Hirtenkönig seinen Palast, den er mit seinen vier liebreizenden Töchtern bewohnte. Rings um den Wohnsitz des Königs breitete sich ein herrlicher Garten aus, in dem auf immergrünen Matten seltsame Blumen ihr buntes Farbenspiel zeigten. Wundersame Springbrunnen belebten mit ihren schimmernden Wasserkünsten die weiten Rasenflächen, auf denen zahm und ohne Scheu ganze Herden von friedlichen Alpentieren weideten. Oft sprangen und scherzten die vier Königstöchter munter auf diesem schönen Gefilde oder trieben mit heiterem Spiel allerlei Kurzweil mit den zutraulich sich nähernden Tieren. Sie fanden es auch nicht unter ihrer Würde, im Tal die Häuschen der armen Hirten zu betreten oder diesen in mancher Gefahr hilfreich zur Seite zu stehen. Die Hirten verehrten deshalb die vier wunderschönen Mädchen, als ob sie ihre Schutzgeister wären.
In dieses herrliche Bergparadies verirrte sich einst ein ungeschlachter Riese, dem die lachenden Fluren so wohl gefielen, daß er sich hoch oben am Glungetzer eine Hütte erbaute und hier seinen dauernden Aufenthalt nahm. Nun war es freilich mit Frieden und Ruhe im freundlichen Tal zu Ende. Weithin schallte des Nachts das fürchterliche Gebrüll des Riesen, daß nicht nur die Menschen erzitterten, sondern sogar die Felsen splitterten und staubende Muren in die fruchtbaren Täler herniederprasselten.
Auf seinen Wegen über die Almen kamen dem Riesen auch die vier Töchter des Hirtenkönigs vor Augen. Wohlgefällig blickte er den reizenden Gestalten nach, und alsbald wandelte ihn die Lust an, eine von ihnen zu freien.
Prüfend musterte er sein Äußeres; denn er wollte einen gediegenen Eindruck machen, wenn er um die Hand einer Königstochter anhielt. So besetzte er denn seinen Bärenfellmantel mit neuen Knöpfen aus Hirschhorn, riß einen sehr schönen Baum als Wanderstab aus und fuhr sich mit den kralligen Fingern ein paarmal durch den borstigen Haarfilz. Nun noch den struppigen Bart glattgestrichen, und fertig war der Riese zur Brautschau.
Dem guten König in seinem Prunksaal erschrak das Herz im Leib, als er diesen ungehobelten Brautwerber sah. Aber er wollte es sich mit seinem grämlichen Nachbarn nicht gänzlich verderben und daher seine Werbung nicht glatt abweisen. "Euer Antrag ist eine Ehre für mich", sagte er mit gewinnendem Lächeln, "aber meine Töchter genießen die Freiheit, ihre Ehegatten selbst auszuwählen; wenn eine von ihnen Eure Werbung annimmt, soll es an meiner Zustimmung nicht fehlen."
Darauf machte sich der Riese so niedlich, als er nur konnte, und brachte recht manierlich, wie es ihm vorkam, seinen Antrag den vier Königstöchtern vor. Aber alles, was er erreichte, war ein vierfaches Lächleln, das vier Körbe verzierte, die er abbekam.
Darüber wurde der riesige Freiersmann gar böse und aufgebracht; denn ihm war die Werbung kein Spaß, sondern bitterer Ernst gewesen. Er beschloß, sich furchtbar zu rächen, und säumte auch nicht, seine Rache alsbald zu vollführen. In der Nacht rollte er haushohe Felsblöcke vom Glunkezer gegen den Palast des Königs herab. Krachend und splitternd schoben die Felsen den Palast vor sich her bis zu einem düsteren Wildsee, in dessen Fluten das Schloß mit seinen Bewohnern versank. Die nachstürzenden Blöcke lagerten sich darüber und füllten die Senke des Sees fast zur Gänze aus. Was von dem dunklen Gewässer noch übrigblieb, heißt jetzt der "Schwarzenbrunn". Das Gebiet ringsherum ist von wirren Steintrümmern übersät, und über allem lagert das Schweigen des Todes.
Aber bald, nachdem der Riese seine schreckliche Tat vollbracht hatte, ergriff bittere Reue sein Herz. Nächtelang saß er am Ufer des Schwarzenbrunns und trauerte über den Tod der vier unschuldigen Königstöchter und des milden, gütigen Königs, die er gemordet. Verzweifelt rauft er sich die Haare, und sein Jammern und Heulen wurde so arg, daß es selbst die Steine erbarmte, die darüber ganz weich und bröckelig wurden. Und endlich hat sich er Riese selbst verwunschen und wurde darob zum Zwerg. Die Königstöchter aber wurden in Seejungfrauen verwandelt, die in hellen Mondnächten in lichtem Gewand über dem dunklen Gewässer hinschweben, an dessen Ufer ein kleines graues Männchen sitzt, eine kümmerliche, mit Baumbart überwachsene Gestalt, die sehnsuchtsvoll und verlangend ihre Hände nach den lichten Wesen ausstreckt, die über dem Wasser wallen. Dann aber lösen sich die schwankenden Gestalten in graue Nebelschleier auf, die den See einhüllen, und der Zwerg stürzt sich wie ein Stein gramerfüllt in den See. Ein dumpfer Nachklang zittert noch über die rasch sich glättende Wasserfläche, dann liegt wieder unheimliche Ruhe über der einsamen Stätte.
Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich,
o. A., o. J., Seite 276