Der Hahnberggeist
Vor einigen hundert Jahren war in der Nähe von Lourdes ein Geist um die Wege, nachts, so zwischen dem ersten Eulenflug und dem frühesten Hahnenschrei, der trug ein helles Licht in der Hand und stand hilfreich allen Leuten bei, die im Finstern unterwegs waren. Für die Boten von Schwaz und aus dem Zillertal stand sein Erscheinen so fest wie das Amen im Gebet: beim Schwöllerbachl würde er sich plötzlich zu ihnen gesellen und seine starke Hand an ihr schweres Gefährt legen. Dann war alle Plage nur noch halb so schlimm, der Karren fuhr gleich noch einmal so schnell, und sie brauchten auch nicht mehr zu sorgen, vom Wege abzukommen und in den Graben zu fahren. Die Boten machten es sich darum auch zur Pflicht, dem treuen Helfer nach bestandener Fahrt mit guten Worten für seinen Beistand zu danken, und weil er da allemal im Handumdrehn verschwunden war, für seine arme Seele ein Vaterunser zu beten. Ohne solch frommes Gedenken unbekümmert weiterzuziehen, hätten sie sich ein Gewissen daraus gemacht und befürchtet, bei der nächsten Fahrt irgendeine schlimme Heimsuchung zu erfahren. Denn wer mit Geistern Umgang pflegt, muß sehr auf der Hut sein, daß er sich's mit ihnen nicht verdirbt.
Einmal jedoch geschah es, in einer stürmischen Novembernacht, da verabsäumte es ein Bote, sei es aus Unbedacht oder unwirscher Laune, seinem uneigennützigen Helfer den schuldigen Dank abzustatten; vielleicht auch setzten ihm Wind und Wetter so arg zu, daß er seinen Mund nicht auftun wollte, nicht einmal zu einem armseligen "Vergelt's Gott!" Schon wollte er oben auf der Wegeshöhe, wo das beschwerlichste Stück Fahrt überstanden war, und wo der Geist die helfende Hand vom Karren zu lösen pflegte, ohne zu Gruß und Dank anzuhalten, eigensinnig weiterziehen, da war jählings der Lichtschein erloschen, und in der Finsternis gellte ihm ein so grausig wilder Fluch um die Ohren, daß er tödlich erschrak, den Karren verriß und ihn auf der abschüssigen Bahn in den Graben verfuhr. Da lag nun alles: der Karren mitsamt allem Pack, Bund und Gebind, und mittendrin er selber, der grobe Gesell. Eine geschlagene Stunde hatte er nun zu tun, den Karren wieder auf den Weg zu schaffen und die verstreuten Siebensachen zusammenzusuchen. Dazu goß es vom Himmel wie aus Kannen und der Wind peitschte ihn wie mit Ruten. Doch das mochte nun wettern und wüten, als war die wilde Jagd über ihm, mit keinem Muckser erleichterte er sich die Plage. Leicht brachte er sich sonst noch um Leib und Leben in dieser verwünschten Nacht.
Fortan aber mußten sich die Boten alle selber rackern und schinden,
um ihre Fuhre über den Berg zu bringen. Der Hahnberggeist ward nicht
mehr gesehen, und niemand mehr durfte sich versprechen, sein Lichtlein
leuchte ihm durch die Fährnisse der Nacht.
Quelle: Sagen aus
Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg.
In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg
und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.