Die Martinspützeln
Seit undenklichen Zeiten werden die Almen des Wattentals vom Vieh der Kasermandln überweidet. "Martinspützeln" heißen sie hier, weil sie mit ihrer Herde zu Martini ausfahren. Diese "Nörggalen" (Wesen von zwerghaftem Wuchs) sind uns Menschen, was Kraft anlangt, weit überlegen; mehr noch übertreffen sie uns durch ihr Wissen um geheimnisvolle Naturkräfte wie durch ihre Gabe, verborgene Schätze aufzuspüren; häufig sind sie auch die heimlichen Hüter vergrabener Reichtümer. Im Guten, mehr noch im Bösen hat schon mancher ihre Überlegenheit zu spüren bekommen; denn so geneigt sie mitunter auch sind, einem armen Teufel zu seinem Glück zu verhelfen, lieber noch tun sie dem Almvolk einen Schabernack an. Fürchten aber muß sie, wer sich aus Fürwitz oder Arg an ihnen vergeht; denn sie strafen unnachsichtlich. Jedenfalls hat es die neue Häuserin des Kingbauern schwer büßen müssen, daß sie mit ihrer Neugier die Heimlichen verärgert hat.
Die Häuserin wirtschaftete auf dem Hofe noch kein volles Jahr, und schon redete man ihr allenthalben nach, sie sei schier krank vor Neugier, und vor ihrer spitzen Zunge sei niemand gefeit; es traue sich bald kein Mensch am Hofe vorbeizugehen, um nur ja nicht ins Gerede zu kommen. Sie sei zwar in der Wirtschaft tüchtig und bei jeder Arbeit recht anstellig, doch ihre Augen habe sie mehr draußen als über der jeweiligen Verrichtung, und mit ihr zu hausen war ein wahres Kreuz. Übrigens würde es niemand wundernehmen, käme sie bald mit einem Leibschaden nieder; denn solche Lasterhaftigkeit, und das sei ihre Neugierde und ihre böse Zunge nicht minder, pflege sich immer noch zu rächen.
So kam Martini und mit diesem Festtag die Almfahrt der Martinspützeln. Allein so still und verstohlen ihre Ausfahrt auch vonstatten ging, beim Kingbauern spähte doch ein neugieriges Augenpaar auf den Weg hinab. Den Pützeln aber ist nichts so sehr zuwider, als wenn sie eins bei ihrem heimlichen Tun beobachtet. Wie von ungefähr sprach da eines von den Mandln: "Machn wir halt's Balkl zu!" Und schon wurde es der Häuserin hinterm Fenster finster und schwarz vor den Augen, und soviel sie auch bunkerte und wischte und rieb, es nützte ihr alles nichts: sie war blind. Und sie blieb es, und kein Mensch wußte, wie ihr zu helfen wäre.
Die Häuserin trug schwer an ihrem Unglück. Aber mit der Zeit erkannte sie darin die Strafe der Heimlichen wie des Himmels für ihre Lasterhaftigkeit, sie ging in sich und gelobte im stillen, Augen und Zunge zu hüten, sollte die Blindheit je wieder von ihr genommen werden. Schließlich vertraute sie sich einem Bader an, und der riet ihr nach langem Besinnen, am nächsten Martinitag wieder hinterm Fenster zu stehen, so als ob sie den Mandln auflauere; das hülfe vielleicht noch.
Mit banger Hoffnung harrte die Häuserin des verheißenen Tages, und als Martini kam, tat sie nach dem empfangenen Rate, stand am Fenster und starrte aus blinden Augen hinab auf den Weg. Und richtig! Als die Pützein am Hause vorbeizogen, sagte eines so vor sich hin: "Machn wir 's Balkl halt wieder auf!" Da fiel es der Häuserin wie ein dunkler Vorhang von den Augen, und sie sah wieder wie ehedem.
Seither war sie eine andere. Mochte draußen vorbeigehen wer wollte, nie mehr sah eins die Häuserin zum Fenster springen. Still ging sie ihrer Arbeit nach, und wußte sie auch niemand Lob und Dank zu sagen, so hütete sie auch ihre Zunge vor böser Nachrede.
(Schulkindern nacherzählt.)
Quelle: Sagen aus
Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg.
In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg
und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.