Der Papierergeist
Wer da glaubt, Spukgeister gäbe es nur noch in alten englischen
Schlössern oder im grauen Gemäuer sonstwo droben im Norden,
war leicht eines Besseren zu belehren; landauf, landab weiß man
auch bei uns von Geistern Böses und Gutes zu erzählen, ja, es
soll noch alte Leute geben, die manchen gekannt haben, der mit Geistern
Umgang pflog. Hier im Wattental sollen gleich drei Geister gespukt haben:
der Hippold-, der Mols- und der Korethgeist. Der letztere hat zu Zeiten,
als die Korethaste noch zur Papiermühle gehörte, Papierergeist
geheißen, und über den Ursprung der Sage, die von ihm handelt,
erzählt man dies:
An die dreihundert Jahre ist es her, damals führte in der Wattner Papiermühle eine gestrenge Witfrau das Regiment, die war von Habsucht rein besessen. Eines Tages vermeldete ihr der Großknecht, über die Aste droben sei ein Hochgewitter niedergegangen und die Mure habe den halben Anger verschüttet. Statt nun Gott zu danken, daß der Murengang nicht Mensch noch Vieh getroffen, verschwor sich die Papiererfrau, den Schaden werde sie wettmachen, ohne daß es sie auch nur einen Kreuzer koste. Sie trug dem Knecht auf, nächtlicherweile noch am selben Tage die Gemarkung auf die Gmoa (Gemeinschaftsgrund) herauszusetzen, so breit und tief, daß der Anger wieder sein altes Ausmaß habe. Was blieb dem Großknecht übrig, als nach ihrem Willen zu verfahren und die Grenzen der Papiereraste den Nachbarn zum Schaden zu verlegen. Als die Nacht um war, hätte von den betroffenen Anliegern keiner sagen können, wo von Rechts wegen seine alte Gemarkung verlaufen sei.
Industriedenkmal aus
der Papiermühle Wattens
Rundläufiger Kollergang aus Bimssteinen
zum Mahlen von Altpapier
© Berit
Mrugalska, 27. Januar 2005
Die habsüchtige Frau sollte jedoch ihres Raubes nicht mehr froh werden; sie starb, noch ehe der Anger wieder grünte. Ihren Geist aber - sie lag noch nicht auf der Totenbahre - sahen Kohlenbrenner und Wurzelgraber auf der Papiereraste umherwandern und mit einer Laterne nach der alten Gemarkung suchen. Und sie sucht immer noch, ist noch immer eine unerlöste Arme Seele, wenn wahr ist, was der eine und andere alte Jäger beim Weine munkelt, daß er nämlich auf nächtlichem Gange den Laternenschein der Papiererfrau gesehen. Fragst du aber einen geradezu, so schüttelt er den Kopf; es redet keiner gern von den Geistern.
(Franz Mark [Werkzeitung Nr. 1, 1953] nacherzählt).
Arbeiter der Papiermühle Wattens mit dem Wappenbrief von 1559
Sgraffito im Bahnhof Fritzens-Wattens von Ernst Schroffenegger 1967
© Berit Mrugalska, 27. Januar 2005
Quelle: Sagen aus Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg. In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.