"Das wild' Gejaid"
In Wildschönau, welches auch Wiltschenau geschrieben wird, und in
einem Seitentale des Inn an dessen rechter Seite liegt, geschah es vor
vielen Jahren, daß ein paar Bauersleute zeitig am Tage an die Arbeit
gehen mußten, ja sogar noch ehe es tagte. Sie eilten sich sehr,
und ließen ihr einziges Kindchen schlafend zurück, in der Meinung,
daß die Mutter am Morgen, wenn es Zeit für das Kind sei, aufzustehen,
wieder zurückgekehrt sein werde. Aber das Kind wachte sehr bald von
selbst auf, und da es sich allein fand, so begann es sich zu fürchten,
und heulte und schrie, und lief aus dem Hause, um den Eltern nachzulaufen,
ungewaschen und ungesegnet. Dadurch war aber das Kind in die Macht der
menschenfeindlichen Dämonen gegeben, und unversehens fuhr die Wildgefahr,
die wilde Jagd, oder wie die Leute in Wildschönau sagen: "das
wild' Gejaid" herzu, faßte das Kind, hob es in die Höhe,
wie ein Wirbelwind das leichte drehende Heu, und setzte es, nachdem das
Kind schwebend und in Todesängsten über das Tal der Kundler
Ache hinüber geflogen war, jenseits dieses Tales auf einer Bergmatte
über Thierbach, glücklicherweise ganz unversehrt wieder auf
den Boden nieder. Das geschah in den siebziger Jahren, ist also nun bald
hundert Jahre her.
J. N. v. Alpenburg
Quelle: Der Sagenkranz der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr. Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.