Die drei Riesen in der Wildschönau
In der Wildschönau hält man noch gegenwärtig große Stücke auf die leibliche Kraft und wird nicht müde, den Stärksten zu rühmen. Der Bauer bildet sich auf seinen Knecht etwas ein, der das größte Heubündel ("Faschtl") trägt, und der Knecht ist für seinen Wert auch nicht blind. Da ist es nun ganz natürlich, daß man auf die Riesen, als die Träger gewaltiger Körperkräfte, größeren Wert legt als auf die winzigen Wichte, die wohl schlau genug sind, aber unter gewöhnlichen Umständen keinen ehrlichen Stein zu heben vermögen. Wie pocht nicht schon den Kindern das Herz im Leibe, wenn sie vom großen "Niederachner" erzählen hören, der ein Hagmeister war in weitem Umkreis und sich vor niemand fürchtete; oder wer hat nicht schon voll Bewunderung den Stein besichtigt, den er von seinem Hause weit ins Feld hinein geworfen hat? Und ist es gar einem gelungen, den Stein zu lupfen, wie geht das Gerede davon nicht alsbald von Mund zu Mund und pflanzt sich durch das ganze Tal fort! Und doch war der große Niederachner kein Riese, sondern ein Menschenkind wie die andern, nur stärker als sie.
Lange Zeit vor dem Niederachner lebte in der Wildschönau ein Riesengeschlecht, das die Riesen des Unterinnthals alle an Stärke übertraf, aber wie alle Riesengeschlechter allmählich ausstarb. Drei dieser Wildschönauer Riesen waren aber noch weit stärker als ihre Brüder und Vettern, und es gab nichts Stärkeres auf der Welt mehr, weder Thier noch Mensch. Der erste hieß Stur und hatte ein ebenso starkes Weib, Sturre Murre mit Namen. Dieser trug einmal von der innersten Alm des Thales Butter heraus, neun Centner [Zentner] im Gewicht ohne die Kraxe. Als er auf das Notterberger Joch kam, wollte ihn die Last schier ein wenig drücken, und er gedachte zu rasten. Er stellte die Kraxe samt der Butter ab, denn es traf sich eben gut, daß ein Stein am Wege lag. Aber der Stein sank unter der Last tief in den Boden ein. Fuchswild über das Handvoll Steindl, lupfte der Riese die Kraxe wieder auf die Achsel, faßte den Stein an beiden Enden, brach ihn in zwei Hälften auseinander und legte das eine Stück auf das andere, so daß die Unterlage hoch genug schien. Jetzt stellte er die Kraxe abermals auf den Stein ab, und das Ding schickte sich. Der Stein ist noch gegenwärtig zu sehen, gerade so, wie ihn der Riese zurückgelassen hat; obwohl ein gutes Stück in dem Boden steckend, ist der sichtbare Theil noch immer gut Ding so groß wie ein Backofen.
Allein noch weit stärker als der Riese Stur war der Marchbacherjochriese. Der hatte einen bösmauligen Nachbarn, den Salvenriesen, der den anderen als hart redete, daß er handgemein wurde mit ihm. Wie sie nun so einen Tag lang gerauft hatten, war noch nichts ausgemacht und niemand wußte, ob der Salvenriese mit seinen Reden Recht hätte oder Unrecht. Darauf robelten sie noch einen Tag, und kam wieder nichts zum Vorschein. Endlich wurden sie Rathes, daß derjenige gewinnen sollte, der einen Stein weiter durch die Luft scheibe [sic]; der Marchbacher solle anfangen. Also scheibt [sic] der Marchbacher den schwersten Stein, den er nur findet, vom Marchbachjoch hinüber und gestracks auf den Gipfel der hohen Salve, wo er zur Erde fiel. Denselben Stein hob nun der Salvenriese auf und schleuderte ihn auf das Marchbachejoch zu; aber er hatte zu kurz geworfen, denn der Stein fiel zwanzig Schritte vor seinem Ziele zu Boden, und so gewann der Marchbacherjochriese. Den Stein zeigt man noch am Marchbacherjoch; er heißt der Riesenstein.
Aber ein gewaltigerer und stärkerer war nimmer zu finden, denn der dritte unter den drei Riesen, das war aber jener, dem das unterirdische Schloß zugehörte und dem das ganze Zwergenvolk unterthan war, von denen etliche dem dummen Kaufmannssohn, nachdem er den Riesen im Schlafe ums Leben gebracht, auf den gläsernen Berg halfen. Dieser unterirdische Riese war so greulich und ungeheuer, daß, wenn er im Schlafe schnarchte, das ganze Schloß zu wackeln begann, und wenn er auf der Erde einherging, so war es genau, als entstünde ein Erdbeben. Kam ihm einmal bei guter Laune Roß und Wagen unter, so griff er wohl darnach, schwang beides samt dem Fuhrmann auf seine Achsel und trug das Gespann in sein Schloß. Als ihm einmal ein Bäuerlein einen Stein nachwarf wie weiland David dem Goliath, packte er das zappelnde Ding und schleuderte es in den Mond hinauf. Hast du es nicht oben gesehen?
Adolf Heyl
Quelle: Der Sagenkranz
der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr.
Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.
Siehe auch: Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol,
gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897, Nr. 42,
S. 77ff