DAS FRÄULEIN AUF DER HOCHBURG
Bei Lans liegt die längstzerfallene Hochburg, in der heutzutage
noch ein Schatz liegt. Ein Fräulein mit einem Schlüsselbund
erscheint bisweilen dort und winkt freundlich, wenn der Schatz blüht.
Als in einer Christnacht ein Mädchen mit ihrer Nahnl in einem naheliegenden
Hofe allein zu Hause wachte, löschte plötzlich das Licht aus.
Da sie trotz alles Suchens das Feuerzeug nicht finden konnte und in der
Asche auch kein Funke mehr glomm, sprach die Alte: "Geh' zum Nachbar
hinüber und hole in der Laterne Licht" Das Kind folgte, gieng
auf's Licht zu und kam in's Schloss, das wie neugebaut da stand. Verdutzt
stieg es die Treppe hinauf und fand im Saale ein schönes Fräulein,
das am Kamine sass, in dem viele Kohlen glühten. Das Fräulein
winkte freundlich, nahm eine Schaufel voll Kohlen und wollte sie dem Mädchen
in die Schürze schütten. Da rief das Kind voll Schrecken: "Mein
Gott, sie verbrennen mir ja das Fürtuch." Augenblicklich war
das Schloss verschwunden und in der Tiefe jammerte und klingelte es. Das
Mädchen liess vor Schrecken die Kohlen fallen und lief athemlos nach
Hause, wo sie alles der Nahnl erzählte.
"O du ungeschicktes Madl !" rief sie aus, "hättest
du die Kohlen genommen, wär das Fräulein erlöst und der
Schatz dein gewesen. Jetzt muss das arme Fräulein wieder hundert
Jahre auf seine Erlösung warten und du bist keinen Kreuzer reicher."
(Bei Innsbruck.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 537, Seite 302