DER ZAUBERER AN DER HOCHSTRAßE
In Sistrans lebte einmal ein Raufer, wie keiner im ganzen Land. Er zog
auf alle Kirchweihfeste, wo ehemals die stärksten und muthigsten
Burschen absichtlich zum Raufen zusammenkamen, fand aber nie einen, der
ihm Meister wurde. Aber diese übermenschliche Stärke war nicht
das einzige; er konnte noch andere Künste, er konnte noch mehr als
Birnen sieden und die Stengel nicht naß machen. Lief ein schöner
Fuchs oder ein tüchtiger Hase im Walde draußen, so richtete
ihnen unser Sistranser die Latze gerade hinter dem Ofen auf, und morgens
hieng das Wild gewiß in der Schnur. Wurde jemandem etwas gestohlen,
so gieng man zu ihm, denn er konnte das gestohlene Gut bringen machen.
Er nahm bloß ein kleines, in Schweinsleder eingebundenes Büchlein
aus dem Kasten und begann zu lesen, und der Dieb mußte, er mochte
wo immer sich aufhalten, von einer unwiderstehlichen Gewalt getrieben
die entfremdete Sache wieder aufnehmen und dem Lesenden zutragen, bei
dem sich natürlich auch immer der Eigenthümer befand. Dieses
Büchlein hatte aber eine solche Kraft, daß der Dieb bei jedem
Wort einen Schritt thun mußte; dreimal weh also demjenigen, der
etwas Großes, Schweres gestohlen hatte und mit diesem aus weiter
Ferne oder über steile Abgründe gehen mußte, wenn der
Mann zu schnell las. Von weitem hörte man dann den Dieb schon daherkeuchen,
und sein Leib war im Schweiße gebadet. Eines Tages machte er sich
einen Knieschemel von neunerlei Holz, kniete darauf neben dem Orgelkasten
in der Kirche und schaute auf die Leute hinab; da sah er alle Hexen, wie
sie hinterlings in der Kirche waren. Aber nach dem Kirchen fielen diese
haufenweise über ihn her und hätten ihn zerrissen, hätte
nicht der Geistliche ihn befreit, denn die Hexen merkten es wohl, daß
er sie jetzt alle kenne. Zu all' diesen Künsten war der Sistranser
auf folgende Weise gekommen: Er hatte in der heiligen Nacht dem Geistlichen
die consekrirte Hostie, während sie dieser aufwandelte, gestohlen
und trug diese eingewickelt unter einem Tüchlein am linken Arm; daher
kamen nun alle seine Künste und seine unbändige Riesenkraft.
Am Ende aber mußte er doch dem Tod, gegen den kein Kräutlein
gewachsen ist, unterliegen.
Das gieng aber schrecklich hart, denn der Raufbold lag drei Tage und Nächte
in Zügen und konnte nicht sterben, bis er endlich dem Geistlichen
nach langem Zureden seinen Frevel einbekannte. Da schnitt ihm der Priester
die heilige Hostie heraus, welche ihm schon in den Arm hineingewachsen
war, und verbrannte die Zauberbücher und Schriften. Als sie in die
Flammen fielen, krachte und donnerte es furchtbar und es war eine Hitze,
daß das Blei von den Fenstern herabrann. Während dieses Höllenlärms
starb der Raufbold. (Bei Innsbruck. Nach dem Innsbrucker Tagblatt Jhrg.
1855, S. 840.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 766, Seite 437