DIE KAISERFRAU AM NACHTBERG

Nachtberg heißt der Berg, der die Täler Brantenberg und Thiersee von einander scheidet. Seinen Namen hat er wahrscheinlich von den tiefen Schatten, die seine dichten Föhren- und Fichtenwälder über ihn ausbreiten. In diesen Forsten hielt sich einst viel Hoch- und Rotwild auf, und allbekannt war der Reichthum des Wildes auf dem Nachtberge. Das war zu lockend für Jäger und Wilderer. Der Nachtberg war ihr liebstes Jagdrevier, aber mancher Schütze verschwand auch spurlos und ward nie wieder gesehen. Da ereignete es sich auch einmal, daß der Senner einer Alpe, die im Bereiche des Nachtberges lag, Butter und Käse zu Thale trug. Wie er so für sich hingieng, sah er plötzlich auf einem niedrigen Hügel, der beiläufig hundert Schritte von ihm entfernt lag, eine hohe Frau stehen, in deren ganzer Gestalt und Haltung hohe Würde ausgedrückt war. Sie trug einen grünen Hut und ein langes, dunkles Kleid, das an die alten, faltenreichen Jagdröcke mahnte. Als der Senner dies sah, blieb er verwundert stehen. Da winkte sie ihm freundlich und er folgte etwas zögernd diesem Zeichen. Wie er ihr nahe stand, überfiel ihn ein kalter Schauer, denn er hatte noch nie eine so schöne und so geisterhafte Frau gesehen. Sie sprach zu ihm: "Einstmals waren hier die herrlichsten Jagdreviere, und Grafen und Fürsten jagten in diesen Wäldern nach edlem Wilde, doch jetzt haben die bösen Menschen bald die unschuldigen Thiere hier oben ausgetilgt und mancher ehrliche Mann ist hier den Wilderern erlegen. Darum habe ich dich zum Beschützer meines Reiches und meiner Thiere erwählt und dich gerufen, auf daß du das Wild schützest und jeden Wilddieb tödtest!"

Da graute dem Senner vor diesem Vorschlage und er wollte nicht darauf eingehen. Als die Frau dies sah, drohte sie ihm mit erhobenem Finger und sprach: "Wehe dir, wenn du mir nicht folgest! Ich werde dann deine Alpenwirthschaft, die ich so lange beschützt habe, verderben und kein einziges Stück deiner Herde soll am Leben bleiben." Da schauderte es dem Sennen und er versprach, der Mahnung zu folgen und jeden Wildschützen aus dem Wege zu räumen. - Er hielt auch sein Wort und schonte keinen. Da begann das Wild wieder auf dem Nachtberge sich zu vermehren und der Berg war gescheut der Kaiserfrau wegen, der man das Verunglücken so vieler Wildschützen zuschrieb.

Heutzutage zeigt man noch die Fußspuren am Steine, worauf sie damals gestanden war, und noch lebt ein alter Wildschütze, der sie einmal auf jenem Felsen stehend und ihm drohend gesehen haben will. Nie, sagen alte Schützen, sei der Berg seither wildlos gewesen. Selbst dann, wenn man glaubte, die letzte Gemse sei dort geschossen worden, seien wieder neue Gemsenherden gekommen, ohne daß man wußte woher. (Bei Kirchbühel.)


Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 78, Seite 51