Von der Engelswand
Vor vielen, vielen Jahren kam ein Fuhrmann, der von Lengenfeld [Längenfeld] nach Hall fuhr, spät abends bei der Engelswand vorbei. Von Ferne schon hörte er laut rufen und schreien:
"Auf! auf! es kommt die Rößlerin von Hall!" -
Verwundert und voll Schrecken blickte er auf die Wand hin und sah dort ein großes Eisenthor weit geöffnet. Plötzlich wurde die Thür mit einem großen Geräusche zugeschlagen und er sah keine Spur mehr davon. Der Fuhrmann gieng seine Wege und besorgte seine Geschäfte; allein die Geschichte bei der Engelswand wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf. Kaum war er in Hall angekommen, als er nach der Rößlerin fragte und die Kunde erhielt, daß zur selben Stunde, in der er an der Engelswand vorbeigefahren, die Rößlerin verschieden sei.
Einst gieng ein Viehdoktor zur Nachtzeit bei der Engelswand vorbei. Da begegneten ihm zwei Männer und riefen ihm zu:
"Lauf, lauf aus dem Wege."
Er gab aber dessen nicht Achtung und gieng seine Straße weiter. Kaum war er aber zwanzig Schritte vorwärts gegangen, als ihm ein Mann begegnete, der ihm zurief: "Nur geschwind aus dem Wege!"
Der Doktor wich aus, und kaum hatte er dieses gethan, so rollte ein feuriger Wagen so schnell daher, daß ihn ein Vogel nicht hätte einholen können. Die Thüre der Engelswand öffnete sich und der feurige Wagen war verschwunden.
Ein Imster, der in später Nacht bei der Engelswand vorbeigieng, sah vor dem Felsen einen großen Haufen Leute stehen, die laut schrieen und großen Lärm machten. Plötzlich öffnete sich die Thüre, das Feuer leckte und schlug zur selben heraus, und die versammelte Volksmenge war hinein verschwunden.
Von der Engelswand bis zur Martinswand soll sich ein unterirdischer Gang
voll Feuer hinziehen. (Ötzthal.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 501, Seite 278f.