Entrückte Kirche
In dem Thale, wo jetzt die Alpe Almajur liegt, stand einst ein schönes Dorf. Es hatte in der Nähe ein Silberbergwerk, und die Leute wurden davon steinreich. Allein der Reichthum machte sie stolz und übermüthig. So schlössen sie zum Beispiel Thüren und Fensterläden bei helllichtem Tage, weil sie nach ihrer Meinung Gottes Licht nicht brauchten und ihre Stuben und Säle selbst erleuchten konnten. Endlich war das Maß ihrer Frevel voll und das ganze Dorf mit der schönen Kirche versank in einer stürmischen Nacht, so daß man keine Spur mehr davon sah. Lange Zeit nachher, vor etwa hundert Jahren, gieng einmal ein Mann aus dem Dorfe Hegerau noch spät an diesem Platze vorbei. Da kam er zufällig in einen unterirdischen Gang, zündete sich eine Kerze, die er bei sich hatte, an und gieng weiter, bis er in den Chor der versunkenen Kirche kam. Vor Staunen wäre er bald umgesunken, als er den Hochaltar mit funkelnden Silberleuchtern und im fchönsten Schmucke sah. Als er sich gesammelt hatte, nahm er einen Leuchter, besah sich alles genau und trat dann den Rückweg an. Er wollte die Kirche eben verlassen, da sah er im hintersten Betstuhle einen alten Mann schlafen, der sich aber bald aufrichtete und den Bauer nach dem Jahre der Zeitrechnung fragte. Als der Alte die Unterhalten hatte, seufzte er:
"Es ist noch nicht Zeit,"
und sank auf die Bank zurück. Da packte den Mann kalter Schauder,
er stürzte fort und eilte über Stock und Stein nach Hause. Hier
angekommen erzählte er seinem Weibe alles, was er gesehen und gehört
hatte, und zeigte ihr den kostbaren Leuchter. Dann legte er sich nieder
- und erwachte nicht mehr, denn er war morgens eine Leiche. (Lechthal.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 636, Seite 361f.