Die Feichtenhexe bei Sölden

In alter, alter Zeit gab es im Ötzthal Zauberinnen. Einmal begab sich eine von hoffnungsloser Liebe gequälte Bauerndirne zu einer Zauberin, um durch die Künste derselben einen jungen, wohlhabenden Hofbesitzer zu gewinnen. Das Mädchen war nicht umsonst gegangen; die Iaubermittel wirkten, und die früher verschmähte Dirne war bald die vielbeneidete Braut. Der Hochzeitstag war schon vor der Thüre, alle Voranstalten des Festes waren getroffen; da stürzt der lebensfrohe Bräutigam von einer steilen Felswand und bleibt auf der Stelle maustodt. Als die Braut dies gehört, bemächtigte sich ihrer der größte Schmerz, der bald zur Verzweiflung sich steigerte. Sie stieß schreckliche Flüche aus, verwünschte Gott und Menschen und gieng endlich zur Zauberin, deren Künste und Geheimnisse sie lernte. Die Schülerin hatte der Lehrerin bald die Kenntnisse abgelauscht und übertraf dieselbe sogar. Bald beschwor sie schreckliche Gewitter herauf, daß die Saaten zu Grunde giengen und die Muhren losbrachen; zur Zeit des Heumahdes erregte sie Sturmwinde, die das Heu in die Ache hinuntertrugen; oft verhexte sie das Vieh, daß es wild sich vom Felsen stürzte; Bursche [Burschen] die nachts zu ihren Dirnen giengen, wurden von ihr geneckt und genasführt; in allerlei Gestalten lief sie den Wanderern nach, sprang ihnen als Katze auf den Rücken oder kollerte sich als ein Klumpen vor ihren Füßen her; die Kinder führte sie irre, daß die armen weinenden Kleinen oft weit vom Vaterhause im Walde draußen gefunden wurden. Dies alles wußte sie so zu vollführen, daß kein Verdacht auf sie fiel. Die Gemeinde fand nicht Hilfe noch Rath gegen diese Plagen und Unglücksfalle. Endlich versprach man ein zweites Glocklein in die kleine Kirche und hoffte dadurch der Unholdin ein Hemmniß in den Weg zu legen. Dies war genug, die Wuth der Hexe gegen das Kirchlein zu kehren. Am Tage, an dem das Glöcklein im Thurme aufgehängt wurde, erregte sie ein gräßliches Unwetter; der Wildbach, der am Kirchlein vorbeitost, wuchs fürchterlich an und stieg höher und höher. Das gieng aber der Hexe noch zu langsam; sie verwandelte sich in eine ungeheure Feichte (Fichte) und stürzte sich in den Bach, um denselben anzuschwellen und die ganze Wucht des Wassers auf die Kirche zu lenken. Im Augenblicke der höchsten Noth und Gefahr wurden die Glöcklein zum Wettersegen geläutet, und der Zauber war gebrochen. Die Feichtenhexe gieng im Wasser zu Grunde. Man fand sie einige Tage später auf dem Sande liegen. Sie war vom Teufel jämmerlich zerkratzt und zerfleischt, und schon todt hielt sie noch das Zauberbuch in ihrer Rechten. (Ötzthal.)

Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 783, Seite 450f.