Feurige Baumstämme
Die Waldungen im Scheibenthal bei Reit unweit Rattenberg war ehemals einer Witwe eigen. Mit dieser spann ein ränkischer Nachbar unter allerhand Vorwand einen Streit an um die schönen stämmigen Tannen. Das Weib stellte sich zwar aus allen Kräften zur Vertheidigung. Aber mit eigenem Reden war nichts auszurichten und die Advokaten verlangen für jedes federleichte Wörtlein schweres, gleißendes Silber. Da vermochte die Bäurin nicht zu zahlen und in kurzer Zeit kam sie um ihr Eingenthum. Das Sprichwort hat wohl nicht Unrecht, wenn es sagt: "Fällt irgendwo ein Stein vom Dach, so trifft er eine Witwe." Seit dieser Zeit sieht man oft flammende Stämme durch den Wald herabrollen, daß die Funken nach allen Seiten fliegen. Dies kommt daher, weil die Leute, die einst die ungerecht erworbenen Bäume der Witwe niederhauten, zur Strafe herumgeistern und immerfort Holz schlagen müssen. (Beilage zur Donau 1855 Nr. 32.)
Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 348, Seite 205.