Die Gemse
Ein Schütze jagte einmal auf den Bergen und erblickte eine Gemse,
welche an eine Zwergföhre (Zunder) gebunden war. Schon hatte er angelegt,
als er sich dachte: Nein, auf ein angebundenes Wild schieße ich
nicht, da ist es nicht richtig! Er band die Gemse los, welche rasch entfloh.
Nach Jahren machte er einmal eine Wallfahrt nach Maria Einsiedeln in der
Schweiz. Wenige Stunden davon entfernt wurde er in einem Gasthaufe, wo
er übernachtete, besonders gut bewirthet und man wollte durchaus
kein Geld von ihm annehmen. Als er aber erklärte, ohne zu zahlen
gehe er nicht fort, ließ ihn die Wirthin rufen und theilte ihm mit,
sie sei jene Gemse gewesen, die er vor Jahren geschont und losgebunden
habe; sie sei durch eine böse Nachbarin so verzaubert, aber durch
ihn mit Gottes Hilfe gerettet worden. Der Schütze wurde von ihr mit
Dank überhäuft und mußte auch noch Geldgeschenke annehmen.
(Lechthal. Chr. Schneller.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 770, Seite 441.