Der Gemsenbraten
Als der Kofler Martel, ein bekannter Gemsenjäger, einmal noch lange
nach dem Ave Marialäuten der Jagd oblag, sah er nicht ferne ein großes
Feuer. In der Meinung, es sei von Hirten angezündet, gieng er darauf
zu und fand zu seiner größten Ueberraschung drei wilde Weiber,
die dabei saßen und ihn freundlich aufnahmen. Sie kochten in einem
kupfernen Kessel einen Gemsenschlägel und luden ihn zur Mahlzeit
ein. Als der Braten bereitet war, sagte eine zum Jäger, er solle
nur tapfer essen, aber dabei kein Beinchen verderben, denn wenn eines
stehle, müsse es die Gemse büßen. Er ließ sich den
köstlichen Braten trefflich schmecken und legte jeden Knochen, den
er abgenagt hatte, sorgfältig in den Kessel zurück, doch trotz
alledem schlüpfte ihm ein Beinchen hinunter, was er klug verhehlte.
Er blieb im Walde über Nacht und kehrte erst am folgenden Morgen
nach Hause. Auf dem Heimwege sah er eine zaundürre Gemse, die am
hintern linken Fuße stark hinkte und und nicht einmal eines Schusses
werth [wert] war. Mit dem Beinchen hatte es eine eigene Bewandtnis [Bewandtnis],
denn es gab ihm oft Stiche im Magen, daß er sich weder zu rathen
[raten], noch zu helfen wußte. Nach drei Jahren gieng Martin auch
wieder einmal auf die Jagd und traf eine nudelfette Gemse, die den hintern,
linken Fuß nachzog. Der Schütze legte an, schoß - und
das Thier [Tier] lag todt [tot] in seinem Blute. Als Kofler es ausgezogen
hatte, sah er, daß am besagten Schenkel das verschluckte Beinchen
fehlte. Es war nun klar, daß die wilden Weiber die Gemse, von der
sie gegessen, wieder lebendig gemacht hatten. (Passeier)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 24, S. 15f