Die goldenen Lilien
Nach dem Abendläuten kam ein Hirtenknabe aus Saubach vom Walde her
und wollte heim. Auf einmal glänzte es unweit von ihm wie frisch
gefallener Schnee. Erstaunt wandte er sich um und sah nach dem Schimmer
hin. Da sah er ein ganzes Feld voll Lilien. Ein paar Sprünge, und
er stand mitten in demselben. Mit vollen Händen pflückte er
die blendendweißen Blumen und zierte damit den Krempenhut. So geschmückt
schritt er stolz weiter. Auf einmal wurde der Hut schwerer und schwerer,
eine Lilie hatte sich losgemacht und fiel klirrend zur Erde. Schnell hob
er sie auf und sieh! sie war von Erz, doch war sie durch den Fall beschädigt
worden. "Wenn alle Lilien von diesem Stoffe sind, kannst du damit
einen schönen Handel machen," sprach er vor sich hin, gieng
nun bedachtsam fürbaß, damit nicht wieder sich eine losmache
und durch den Fall beschädiget werde. Mochte der Hut auch noch so
schwer drücken, er schleppte sich, so gut es gieng, weiter. Als er
heimkam, staunten seine Leute nicht wenig und auch der Knabe riß
die Augen weit auf, denn die Lilien waren eitel Gold und Silber. "Bube!
du bist ein Glückskind; geh' nur gleich und such' die Lilien noch
einmal auf und pflück', so viel du tragen kannst, dann sind wir gemachte
Herren," mahnten seine Leute. Der Knabe ließ sich das nicht
zweimal sagen und eilte über Hals und Kopf zum Fundorte der Lilien
zurück. Doch, wie sehr er auch spähte und suchte, fand er die
Lilien nicht mehr, nur eine Stimme hörte er seufzend rufen: "Hättest
du etwas Geweihtes in's Lilienfeld geworfen, so wär ich erlöst."
(Flaas.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 604, Seite 340f