Die Goldwurzel
Auf dem Reiterjoch, das zuhinterst im Eggental
liegt, wächst seit unvordenklichen Zeiten eine Wurzel, die viele
Klafter dick und purlauteres Gold ist. Um Sonnenwend blüht sie, dann
wirft sie ab und wächst jedes Jahr einen Schuh. Aber nur ein Glückskind
kann sie sehen. Vor beiläufig hundert Jahren schneitete ein armer
Bauer aus Wälschnoven, genannt der Oberpoppner Tom, im Karer Walde
Bäume ab. Wie er einmal auf einem Stamme stand und hackte, sah er
drei Venediger daher kommen. Sie hatten Bergspiegel, mit denen man durch
die Felsen hindurch schauen kann. Sie sagten zu Tom: "Was schwitzest du
denn so, Bauer?" - Er sprach: "Vom Hacken und Schneiten." - "Und was verdienst
damit?" - "Was ich halt so zum Essen brauche." - "Das ist wenig," sprach
einer, "geh' lieber mit uns, da wirst mehr erhalten." Dann frugen sie,
ob sie bei ihm übernachten könnten. "Vom Herzen gerne," erwiderte
er und führte sie in seine Hütte, wo er ihnen Milch und hartes
Brot gab. Sie schliefen dort, und in aller Frühe gieng Tom mit ihnen
fort.
Sie wanderten lange durch den Wald und kamen endlich zu einer Felswand,
an der ein so enges Türlein war, daß einer durchschliefen konnte.
Da schloffen sie hinein und sie zeichneten den Bauern in Lebensgröße
am hellen Felsen ab. Dann sagte einer: "Jetzt haben wir Dich in unserer
Gewalt. Du magst sein, wo du willst, du wirst immer getroffen, wenn wir
auf dein Bild schießen." Da lagen ein Stemmeisen, ein Hammer, ein
Bergeisen, eine Wage und zwei Wachskerzen bereit - und vor ihm glänzte
und gleißte die Goldwurzel, daß ihm beinahe das Sehen vergieng.
Sie erlaubten ihm, jährlich um fünfzehnhundert Gulden Gold herabzustemmen,
aber nicht mehr, sonst würde es ihm übel ergehen. Er war damit
so zufrieden, daß er vor Freuden aufhüpfte. Er nahm Gold, die
Wälschen nahmen Gold und schwer belastet giengen sie aus dem Berge.
Er nahm Jahr für Jahr vom Gold, aber weniger, als ihm erlaubt war,
ward ein steinreicher Mann und that den Armen viel Gutes. Als er gestorben,
fand man selbst alte Strümpfe mit Gold gefüllt.
Die Leute ahnten wohl, daß Tom sein Gold aus dem Berg hole, und
oft schlich man ihm nach, um auch die Wurzel zu finden; allein auf einmal
war er verschwunden. Einmal giengen mehrere heimlich hinter ihm und folgten
ihm bis zum Thürl. Sie sahen ihn hineinkriechen, aber nicht mehr
herauskommen - und als sie auch dem Türl sich näherten, kam
ein Sturm und Schrecken über sie, daß sie über Stock und
Stein nach Hause liefen. Sie hatten vor Entsetzen Fieber bekommen und
mußten drei Tage im Bette liegen. Da war ihnen die Lust zur Goldwurzel
vergangen, obwohl sie keine fünf Stunden ober dem Ober-Poppnerhof
zu finden wäre.
Vor beiläufig vierzig Jahren kam der Wallhiesel, ein Waldbote, der
über den ganzen Karer Wald zu schaffen hatte, zu einem Steine, der
größer als ein Backofen war. Der Block "vipperte" (schillerte)
und glänzte, daß es nicht zu sagen ist. Er nahm seinen Markhammer,
den ein Waldbote immer mit sich trägt, schlug vom Stein etliche Stücke
ab und steckte bei dem Block eine hohe Stange auf, damit er ihn wiederfinden
könne. Bald darauf gieng er nach Bozen und fragte einen Goldschmied,
was für ein Stein das sei und ob er einen Werth habe. Da sprach der
Befragte: "Mensch, das ist eitles Gold; wo hast du es her?" und zahlte
ihm für die Stücke tausend Gulden. Voll Freude kehrte der Wallhiesel
zurück, suchte am folgenden Tag Stange und Stein, konnte aber keintwederes
finden. Der Block war von der Goldwurzel herabgefallen und wird noch heutzutage
im Karer Wald liegen, aber nur ein Sonntagskind kann ihn vielleicht finden.
(Wälschnoven.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 159, Seite 96.