Der Hirtenbub

Ein Hirtenbüblein hütete im Sommer die Kühe am Berge droben. Da kam eines Tages ein fürchterliches Hochgewitter, und der Knabe lief zu einem überhangenden Kofel um dort Schirm vor dem Regen zu finden. Als er untergestanden war, sah er einen dicken Strick aus dem Loche hervorragen, der einen großen Knopf hatte. Das Büblein staunte anfangs, dachte sich aber bald, was ist das etwa für ein Strick? Ich muß ihn doch herausziehen und mitnehmen. Es griff nun nach dem Seile und zog und zog. Doch wie es auch sich anstrengte, das Seil wollte nicht kommen. Da gab der Knabe einen tüchtigen Riß - und alsogleich rief eine furchtbare Stimme aus dem tiefen Loche:

"Hundspudel, laßt's gehen!"

Der durch diesen Ruf erschreckte Knabe lief athemlos nach Hause und erzählte seinen Eltern, was ihm geschehen war. Als Vater und Mutter dies gehört hatten, giengen sie mit ihm zum Kofel hinauf, um zu sehen, welche Bewandtniß [Bewandnis] es mit dem seltsamen Stricke habe. Wie sie aber zur Stelle kamen, waren Strick und Loch spurlos verschwunden. (Grins. Prof. Grißemann.)

Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 823, Seite 483f.