Der Mord beim Lärchbaum
Beim hohen Lärchbaum, der eine Viertelstunde vom Dorfe Grins entfernt ist, rastete vor vielen Jahren ein frommer Mann, der vom Markte heimkehrte und viel Geld mit sich trug. Zufällig kam ein schlechter Mensch, der immer zu wenig im Beutel hatte, des Weges und beschloß, alsogleich den am Baume Sitzenden zu ermorden, weil er vermuthete, daß jener Geld bei sich habe. Wüthend sprang er auf ihn los. Der fromme Mann bat um das Leben und rief um Hilfe. Jedoch alles war vergebens. Als der Arme sah, daß er sterben müsse, sprach er zum Räuber:
"Es wird dir nicht helfen. So wahr ein Gott im Himmel ist, werden meine Gebeine dich verrathen!" -
Der Mörder versetzte dem Wehrlosen den Todesstreich und vergrub den Leichnam unter einem Taxenhaufen. Er gieng dann in die Weite und kaufte sich im Unterinnthale Haus und Hof. Nach etlichen Jahren stieg aus dem Streuhaufen ein köstlicher Geruch auf, als ob's Balsam wäre, und Hunde gruben dort nach und brachten Gebeine zum Vorschein. Ein Krämer, der zufällig dazu kam, merkte den edlen Geruch und nahm ein Beinchen auf. Als er sah, daß dasselbe so süß dufte, schob er's in seinen Sack und gieng seinen Weg weiter. Er gieng bald darauf in's Unterland. Als er eines Abends in ein bekanntes Wirthshaus trat, um dort zu übernachten, fand er in der Stube viele Gäste. Diesen fiel bald der gute Geruch auf und sie fragten den Krämer, ob er mit Gewürz handle. Dieser sprach, er hausiere nur mit Hosenträgern, Federn :c. Der süße Geruch komme von einem Beinchen her, das er auf dem Wege gefunden habe. Da waren alle neugierig, das wundervolle Beinchen zu sehen. Er gab es ihnen - und jeder nahm es und überzeugte sich, daß von ihm der kostbare Duft ausgehe. Da griff es auch ein Bauer an - und plötzlich waren seine Hände voll Blut. Die ganze Gesellschaft erschrack [erschrak] und wollte nicht ihren Augen trauen. Der Bauer, welcher vor Schrecken windelweiß war, gestand seine Unthat und erzählte, daß er den frommen Mann an der hohen Lärche gemordet und vergraben habe. - Weinend lief er aus dem Wirthshaufe fort und stellte sich dem Richter, der nach gepflogener Untersuchung über den reumüthigen Sünder den Stab brechen mußte. So sind die Worte des frommen Mannes:
"So wahr ein Gott im Himmel ist, werden meine Gebeine dich verrathen!"
haarklein in Erfüllung gegangen. (Grins. Prof. Grißemann.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 848, Seite 494f.