Der Tscheier Friedl
Tschei ist ein schöner, weitschichtiger Galtberg der Gemeinde Nauders,
südöstlich vom Dorfe hinter den zwei Kuhalpen Pieng und Waldefur.
Von diesem Berge zieht die Gemeinde Nauders bedeutenden Nutzen durch das
eigene und anderswoher aufgenommene Vieh. In diesem Berge spuckt [spukt]
der Tscheier Friedl. Der Friedl war ein treuloser und bösartiger
Hirt. Durch seine Nachlässigkeit gieng manches Stück Vieh zu
Grunde, aber ihm war es gleichgiltig und nie suchte er's auf. Er ließ
immer den Eigenthümer allein suchen. Er war auch boshaft; denn war
er einem Menschen abgeneigt, so mußte es das arme Vieh entgelten,
und oftmals soll er das Vieh geplagt, verstümmelt, insbesondere ihm
den Schweif abgeschnitten haben. Das soll schon vor zweihundert Jahren
gewesen sein. Seit seinem Tode bis auf den heutigen Tag spuckt [spukt]
der Friedl in Tschei. Hirten, Jäger und viele viehsuchende Leute
wollen ihn gesehen haben. Er erscheint an den Grenzmarken des Tscheiberges
bald da, bald dort - an diesem und jenem Ende - auf der höchsten
Bergeshöhe, wie suchend. Sein Gewand ist ein grauer Hirtenrock und
ein breiter Schlapphut tief im Kopfe, so daß man sein Gesicht selten
sieht. Sein Gesicht ist leichenblaß, und er trägt einen Knotenstock
in seiner Hand. Kommt ihm jemand nahe, so winkt er mit der Hand zurück,
daß man ihm nicht nahe komme, und geht langsam und gebückt
weiter. Viele wollen ihn gesehen haben und lassen es sich durchaus nicht
nehmen. Ein Schauder überfällt alle, die ihn sehen, der Kopf
und das Gesicht schwillt ihnen auf, und vor Schrecken sind manche nach
kurzer Zeit gestorben. (Nauders.)
Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 388, Seite 226.