Die Wasserfräulein

Im Kalterer See war ein Mann ertrunken. Als sein Sohn später auf dem Wasser fuhr, sah er ein grünes Männlein, das ihm freundlich zurief: "Komm' mit mir in mein Haus!" Der Bursche wollte jedoch nicht, denn er fürchtete das Seemannl und noch mehr scheute er den Wassertod. Als der Grüne dies bemerkte, kam er auf ihn zu und gab ihm eine Floßfeder mit den Worten: "Nimm diese Feder und folge mir keck, denn so lange du sie bei dir trägst, kannst du nicht ertrinken." Er führte den Jüngling in die Tiefe des Sees, wo sie zu einem wunderschönen Kristallhause kamen. Der grüne Mann führte ihn hinein und zeigte ihm all die Pracht und Herrlichkeit. Wie sie so durch die schönen Zimmer giengen, sah der Bursch seinen Vater leibhaftig in einem krystallenen Kasten liegen. Er bat nun den Führer flehentlich um seinen Vater. "Du kannst ihn haben, wenn du die Leiche deines Vaters und seine Seele, die dort im Glase sich befindet, den bewachenden Fräulein entreißen kannst. Nimm diese Nebelkappe und versuche dein Glück."

Der Bursche macht sich unsichtbar und singt in einer Ecke ein wunderschönes Lied. Als die Fräulein dies hören, eilen sie neugierig den lieblichen Tönen zu. Augenblicklich enteilt er, springt auf die Leiche des Vaters zu, greift nach dem Glase, in dem sich die Seele befindet, und eilt mit beiden von dannen. Wie staunte er aber, als er dem See mit seinem kostbaren Raube entstiegen war und ein Fräulein an der Leiche seines Vaters angeklammert fand! Sie war nun seine Gefangene und gieng mit ihm und seinem geretteten Vater nach Hause, wo sie treu und redlich diente. Der Jüngling, der später das Seefräulein heirathete, besuchte noch oft den Wassermann in seiner krystallenen Burg. (Kaltern.)



Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 167, Seite 101.