Der zerrissene Weber
Vor vielen Jahren saßen spät abends beim Maierwirth in Wangen
mehrere lustige Brüder bei einander, unter ihnen der Weber von Oberinn,
der von Bozen gekommen war und heute noch nach Hause wollte. Der Weg dahin
führt durch den sogenannten Schatten, eine unheimliche Gegend, wo
es schon von alters her geistet. Als der Weber in später Nacht aufbrechen
wollte, mahnten ihn seine Kameraden ab und sagten, er solle lieber in
Wangen übernachten und sich nicht der Gefahr aussetzen. Er ließ
sich aber nicht von seinem Vorhaben abwendig machen, nahm seine Kraxe
und gieng prahlend fort. Beiläufig eine Stunde später kam er
ohne Kraxe bei seinem Hause in Oberinn an, verlangte von seinem Weibe
eine Laterne mit dem Bemerken, er müsse in den Schatten zurück,
um dem Geist die Kraxe abzujagen. Trotz aller Gegenvorstellungen gieng
er mit dem Lichte fort. Als sie ihm durch's Stubenfenster nachschaute,
sah sie das Licht hoch in der Luft schweben. Aller Schlaf war ihr vergangen,
und sie wachte angstvoll, bis es tagte. Da gieng sie mit den Hausleuten
in den Schatten hinunter, um den Weber zu suchen. Endlich fanden sie die
Kraxe tief im Schnee und darunter lag der Weber todt und beinahe zerrissen.
Rund herum waren kleine Fußstapfen, als ob Kinder herumgehüpft
wären. (Oberinn.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 493, Seite 274.