Das wilde Mannl
Zwei Wildschützen aus dem Kaunserthale kamen einmal spätabends in eine Alpengasthütte und legten sich dort in's Heu, das den Sennern zur Lagerstätte gedient hatte. Zwei Jagdhunde, der eine weit größer als der andere, waren in ihrem Gefolge und hatten sich im Heu gelagert. Die Wilderer waren noch nicht eingeschlafen, als ein starkes Klopfen an der Thüre hörbar wurde und eine Stimme kläglich um Einlaß bat. Auf die Zusage der Jäger rief es:
"I getrau mi nit, hängt die Hunde an,
Daß i inni geh'n kann."
Allein das wollten die Jäger nicht thun, weil sie nicht wußten, wer kommen werde. Da rief es wieder:
"Hängt sie doch an,
Da habt ihr ein Bandl,
Weil i's in der Weit' nit aushalten kann."
Mit diesen Worten kam eine dünne Schnur bei der Thürspalte
herein, welche die Schützen in Empfang nahmen. Sie banden damit den
kleineren Hund an und bedeuteten dem zudringlichen Fremden, daß
er jetzt kommen könne. Da erschien ein kurzes, dickes Männchen
und schoß mit Blitzesschnelle auf den einen Jäger und begann
ihn zu würgen. Wie dies der große Hund sah, sprang er wüthend
auf das Mannl los, packte es an und riß es vom bedrohten Jäger
weg. Das Mannl balgte sich nun eine zeit lang mit dem Hunde herum und
"witschte" endlich, vom Hunde verfolgt und gebissen, zur Thür
hinaus. Die Jäger waren froh, daß der unheimliche Gast aus
der Hütte war und sperrten sorgsam die Thüre. Sie vernahmen
aus weite Ferne noch das Geschrei des Mannls und das Gebell des Hundes,
bis beides verstummte. Nach einigen Tagen kam der Hund in einem elenden
Zustand zurück und krepirte bald darauf, den kleinern Hund, welche
sie am Zauberbande festgebunden hatten, konnten sie auf keine Weise mehr
losmachen. Er mußte in der Alpenhütte bleiben und dort zu Grunde
gehen. (Kaunserthal.)
Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 132, Seite 79.