WILDE FRAU
Zu einem Bauernweibe, welches an einemVormittage auf einem Acker jätete,
kam einmal eine wilde Frau aus dem Gebirge und brachte einen Laib Brot
und ein wunderhübsches kleines Messer.
Sie sagte: " Da nimm und iß; lege mir aber, wenn Du mittags
heimgehst, das Messer dort auf die Mark." Die Bäurin aß
und aß, denn so ein gutes Brod hatte sie nie gehabt, und als sie
mittags heimgieng, legte sie das Messer auf die Mark. Nachmittags kam
sie wieder, jätete fleißig bis auf den Abend und wollte dann
heimgehen. Da sah sie das Messer noch auf der Mark liegen. "Schade,"
dachte sie sich, "wenn das schöne Messer gestohlen würde;
ich will es mit mir nehmen." Aber kaum hatte sie dies gedacht, da
stand plötzlich die wilde Frau wieder vor ihr und sprach zornig:
"Habe ich dir nicht gesagt, du sollst das Messer nicht mitnehmen?
Nun sollst du kein Brot mehr von mir bekommen und wärest du nicht
so (die Bäurin war gesegneten Leibes), ich zerrisse dich so klein,
wie der Staub in der Sonne." Damit verschwand sie und kam nie wieder.
(Lechthal.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 196, Seite 121