Mutter und Kind
Es war einmal eine alte Witfrau, und die hatte einen einzigen Sohn, den sie mit vollster Zärtlichkeit liebte. Da erkrankte der Sohn und starb. Was die Alte da vor und nach dem Tode zusammengeweint, kann sich jeder leicht denken. Nun erscheint ihr nachts, als sie wiederum in Tränen auf ihrem Bette saß, der Verstorbene und bringt ein „Ständele“ voll Wasser mit. „So viel, beste Mutter“, sagte er, „habt Ihr für mich bereits geweint, und doch hat es mir nicht das geringste genützt. Betet für mich, auf daß ich zur Ruhe komme!“ Die Erscheinung wich nach diesen Worten. Die arme Frau aber verlegte sich hierauf mit aller Kraft, welche ihr die Liebe zum Toten einflößte, aufs Gebet, und dieses drang aus dem tiefsten Grunde des Mutterherzens mächtig zum Himmel empor. Nach kurzer Frist erschien ihr der Sohn wieder in nächtlicher Weile und dankte, da er durch das Gebet seine Ruhe gefunden.Quelle: Die Sagen Vorarlbergs. Nach schriftlichen und mündlichen Überlieferungen gesammelt und erläutert von F.J. Vonbun, 2. vermehrte Auflage, nach der hinterlassenen Handschrift des Verfassers u. a. Quellen erweitert und mit einem Lebensabrisse Vonbuns versehen von Hermann Sander, Innsbruck 1998, S. 102, Nr. 12b, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 47f