402. Die Mutter
1782 am 6. Januar abends 11 Uhr verließ auf dem Genstelboden Barbara Wüstnerin, Mutter von acht Kindern, das Zeitliche im 44. Jahre ihres erbaulichen Lebens. Ein Söhnlein, Jodokus mit Namen, etwas über neun Jahre alt, war im Bett, als die Mutter verschied. Er betete nochmals fleißig für seine verstorbene Mutter, und mahnte auch seine Geschwisterte dazu. Er war daneben ganz traurig bis zum 28. Hornung. Da kam der Knab voller Freud aus seinem Schlafgemach, erzählte den Seinigen mit großer Fertigkeit, welche ihm ansonst die Natur wegen stammelnder Zunge gänzlich versagt, was er itzt das zweitemal gehört und gesehen: „Just als Ihr" — sprach er zu dem Vater und zu den Geschwisterten — „noch bei der Bettstatt der verstorbenen Mutter weintet, kam selbe zu meinem Bett ziemlich weiß gekleidet mit traurigem Aussehen. Sie sagte: ,Kind, ich bin zum Fegfeuer verurteilt, bet für mich! Du bist es schuldig; ich hob dir manchen Bissen aus dem Mund gegeben. Sobald ich erlöst bin, will ich wiederkommen; sei indessen still davon.' Heut kam sie wieder vor dem anbrechenden Tag, fröhlich und in schneeweißer Gestalt, doch hatte sie ein kleines schwarzes Flecklein auf der Nase. Sie sprach mit frohlockender Geberde: .Jetzt bin ich nächst bei der Erlösung. Johann Jakob hat durch sein Gebet mir fünf Tage, Aloisia drei, Judith zwei, der Vater einen Tag von den Fegfeuerstrafen ausgelöscht. Das Josephle (es war wie obige ein eigenes Kind) ist ein böser Bub; wegen seiner, weil ich ihm zuviel übersehen, mußte ich drei Tage lang leiden. Es wird in der Ewigkeit weit genauer gerechnet und alles weit richtiger verrechnet, als sich die Menschen einbilden können. Man tut den Predigern unrecht, wenn man sagt, sie machen das Fegfeuer heißer als es sei, denn die Hitze der Sonne ist nur ein Schein und das irdische Feuer noch ein pures Eis gegen die Flammen des Fegfeuers. Die Priester sind nie imstande, diese Pein nach Genüge zu beschreiben. Kind, bete mir noch fünf Vaterunser, fünf Ave Maria und den Glauben. Sag alles deinen Geschwisterten; sie sollen sich spiegeln, gehorsamen und fromm leben. Es gehe in jener Welt mit der Strafe erschrecklich und unbeschreiblich zu. Es fallen die Seelen der Christen so schnell und häufig, als das Wasser durch ein Brunnenrohr, in das Fegfeuer. Wer ihre Qualen nur von weitem ansehen müßte, würde schon aus Leid verschmachten. Diese sieben Wochen schienen mir viele tausend gewesen zu sein. Spieglet Euch! Auf dieses ist sie verschwunden."
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 402, S. 227f