278. Hansmichel
I. Der Partbutz
Am Part in Gurtis stand früher ein hölzernes Doppelhaus und drinnen geisterte der Partbutz. Er sah aus wie ein alter Bauer. Sprach man ihn an, so verschwand er augenblicklich und man bekam übernacht einen geschwollenen Kopf. In den langen Winternächten ging der Partbutz auf den tiefverschneiten Wiesen mit einem Licht spazieren. Am Morgen war keine Fußspur von ihm zu finden. Im Parthaus schlug er die Türen auf und zu. Manchmal blies er auch so stark ins Herdfeuer, daß die glühenden Scheiter in der Küche herumflogen.
II. Besessen
Vor vielen Jahren wohnten im Parthaus zwei alte Jungfern. Die verlachte ein Bursche aus Gurtis und trieb seinen Übermut so freventlich weit, ihnen sogar am Gründonnerstag zu pößlen. Er befeuchtete sein Gesicht und blies ins Mehl; dann setzte er einen mächtigen Filzhut auf und hing den blauen Radmantel um. In dieser Verkleidung schlich er zum Parthaus, um die beiden Jungfern als Partbutz zu schrecken. Er tappte durch den dunklen Hausgang und klopfte an die Stubentür. Als die eine Schwester öffnete und den vermeintlichen Partbutz sah, stieß sie einen gräßlichen Geller aus und taumelte zurück. Da rief die andere furchtlos: „Bist du ein Mensch, so sprich!" Hansmichel aber schwieg und regte sich nicht. Jetzt erhob sie ihre geballte Faust und schrie: „So geh in drei Deixels Namen!" Dem Burschen lief es kalt über den Rücken und schnell wandte er sich zur Heimkehr. Aber was kam da! Aus der Dunkelheit des Hausganges lösten sich drei unheimliche Schatten. Sie wichen nicht von seiner Seite, sie ließen ihn nicht ins Vaterhaus treten, sondern schleppten ihn zur Kirche und warfen ihn über die Friedhofmauer. Sinnlos vor Angst und Grauen verließ Hansmichel den Gottesacker. Doch alsogleich waren die drei Schatten wieder neben ihm. Jetzt jagten sie ihn auf einem Schlittweg bergan. Ein rauflustiger Bursche aber hatte das sonderbare Treiben des Maskierten beobachtet; er stellte sich ihm in den Weg, setzte ihm den Schnitzer auf die Brust und rief: „Entweder laufst du augenblicklich heim oder ich mache dich kalt!" Erst jetzt wurde Hansmichel wieder Herr über sich selbst und konnte ungehindert nach Hause.
Seit dieser Zeit hatte er hin und wieder an eigentümlichen Anfällen zu leiden. Es drehten sied seine Arme und Beine ineinander, als ob sie Stricke wären, und streckten sich wieder blitzschnell. Flockiger Schaum stand auf den Lippen, er mußte brüllen wie ein wilder Stier und schlug mit den Fäusten, daß es krachte. Alle Ärzte konnten ihm nicht helfen und ein alter Doktor schüttelte schweigend den Kopf. Aber eine Nachbarin sagte: „Hansmichel, du bist betrübt!" (besessen), und als seine Mutter ihm einen geweihten Rosenkranz unter die Kissen legte, warf es ihn hoch empor. Da wandten sich die Leute an den Pfarrer und auf seinen Rat schien das Übel gebannt.
III. In Einsiedeln
Im folgenden Jahre ging Hansmichel in die Schweiz nach Einsiedeln auf Taglohn. Dort traten aber die unheimlichen Anfälle öfter und heftiger auf als je. Nun versuchte sein Bruder ein Zaubermittel: Er faßte mit dem Daumen und Zeigefinger seinen Schnitzer an der Spitze und warf ihn derart auf den Stubenboden, daß er mitten in den Dielen stecken blieb. Für Hansmichel war dies Mittel erfolglos; aber seinen Bruder schleuderte es in eine Ecke, daß ihm Hören und Sehen verging. Jetzt wandte man sich an das Kloster um Beistand und als Hansmichel nicht freiwillig zur Kirche ging, wurde er von zwanzig Fäusten dahingeschoben. Kaum über der Schwelle, gab er aber jeglichen Widerstand auf; ein Priester spendete ihm Trost und Hansmichel verließ beruhigt das Kloster.
IV. Entführt
So schien in Einsiedeln wieder alles besser und Hansmichel war gesund und recht. Es drängte ihn aber heimzukehren, wiewohl ihm alles davon abriet. Er konnte nicht widerstehen und verließ Einsiedeln heimlich. Doch in Gurtis war er nun erst recht der unheimlichen bösen Gewalt preisgegeben. Es litt ihn nicht im Bett, ja, nicht im Vaterhaus; vom Essen, von der Arbeit sprang er weg und begann zu laufen. Gar vom Englisch-Gruß-Läuten abends bis zum Glockenklang in der Früh war er nie sicher, wann es ihn forttrieb; und wenn auch die Türen und Fenster verrammelt wurden, so entkam er doch jedesmal auf unerklärliche Weise. Man sah ihn pfeilschnell dahinsausen, bis er hinter einem Bühel oder in einem Tobel verschwand. Häufig war ein wilder Schrofen im Gallinatal sein Ziel. Stundenlang litt er dort Hunger, Durst und Kälte und wußte keinen Augenblick, wann er abstürze; immer sah er eine dunkle Gestalt von Ungewissem Aussehen neben sich.
Einmal wurde Hansmichel auf die Alpe Sattel im Gallinatal entführt. Er pflückte Beeren, um seinen Hunger zu stillen. Da kam ein Hirt und fragte, wie im Tale alles stehe. Doch Hansmichel sagte: „Schau mir nicht nach, ich muß fort!" Und der Hirte sah mit Grausen, daß es ihn gleich einer Flaumfeder über die Tannenwipfel wirbelte, bis er im Gallinatobel verschwand. Auch ein Hirte von der Alpe Parpfins im Brandnertal mußte dies einmal mitansehen.
Eines Tages war Hansmichel mit einigen Kameraden bei der Gurtiser Kirche. Auf einmal sagte er: „Jetzt gebt acht und wartet; ich muß noch auf die Mittagspitze, in einer Stunde bin ich wieder da!" Die Burschen sahen ihn polzengerade bergan laufen, auf der Spitze den Hut schwenken und ehe eine Stunde vorbei war, stand Hansmichel wieder bei ihnen und sagte, gar oft sei er von Bützen begleitet. Als das Kreuz oben in Verfall kam, mahnte er, es wieder aufzurichten, es breche sonst über Gurtis ein großes Unglück herein.
Einmal wurde er samt einem Sack Erdäpfel auf den höchsten Turm von Ramschwag getragen. Erst als man zwei Leitern aneinander band, konnte er wieder herab.
V. Das Gnadenbild
Wie ein Stück Flözholz schwamm er nicht selten im Gallinabach heraus. Doch glockenganz und nußtrocken verließ er das Wasser. In dieser Weise brachte ihn auch die Ill öfters aus dem Montafon. Einmal blieb er bei einer solchen Wasserfahrt prügelstarr auf einer Sandbank bei Nenzing liegen. Er schlief ein und hatte einen schönen Traum. Es erschien ihm ein Bildnis der Muttergottes und eine Stimme sprach: „Wo dieses Bild verehrt wird, soll dir geholfen werden!" Von der Nenzinger Au her war der Schlafende gesehen worden. Es kam eine Menge Volkes und Hansmichel wurde ans Ufer gerettet. Da erzählte er seinen Traum. Nun suchten die Frauen in ihren Gebetbüchern und zeigten ihm die Marienbilder. Lange war keines das rechte. Doch endlich rief Hansmichel freudig: „Hier ist das Bild, das mir erschienen! Ich erkenne es genau! Das Kopftuch, der traurige Blick, die Tränen an Äug und Wangen — alles stimmt!" Es war das Bild der Muttergottes von Absam in Tirol.
VI. Die Jungfrau und der Herr
Also auf nach Absam! Aber Hansmichel war ja in Gewalt einer bösen Macht und diese würde ihn gewiß nicht an den Gnadenort wallfahren lassen. Da wurde ihm geraten, er solle mit dem Stellwagen fahren und eine Jungfrau möge ihn begleiten, doch kein Fremder dürfe von dieser Reise erfahren. Nun schenkte ein reicher Mann von Nenzing dem armen Hansmichel das Geld und eine fromme Jungfrau pilgerte mit ihm. Auf der Fahrt stieg einmal ein nobler, fremder Herr in den Stellwagen. Er war ganz schwarz gekleidet und fragte nach einer Weile, ob vielleicht jemand einen gewissen Hansmichel von Gurtis kenne. Hansmichel schwieg. Auch seine Begleiterin gab keine Auskunft. Wütend verließ der Fremde den Wagen und verschwand augenblicklich. Ohne Unfall kamen die beiden Pilger in die Wallfahrtskirche zu Absam und Hansmichels Traum ging in Erfüllung. Er fand Trost und Heilung auf immer. So war er durch Himmelsgnade von der schweren Not befreit, in welche ihn der Fluch der Partjungfer gebracht hatte. Etwa vor fünfzig Jahren starb er in Einsiedeln als armer Mann.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 278, S. 160ff