163. In der heiligen Nacht
In der hl. Nacht zwischen zwölf und eins geht es auf der Welt gar wunderbar zu. In dieser Stunde sind alle Tische aus Birnenbrot, wer aber hineinbeißt, bringt die Zähne nicht mehr heraus. Und wenn man das Vieh um diese Stunde an den Brunnen treibt, bekommt es dort anstatt Wasser Wein zu trinken. Auch kann um diese Stunde alles Vieh reden, weil das Christkindlein in einem Stall beim lieben Vieh das Licht der Welt erblickte.
Das konnte aber einmal ein Bauer im Schwabenland nicht recht glauben. Man hatte im Wirtshaus darüber gesprochen, er aber wollte sich von der Wahrheit der Sache selbst überzeugen und ging in seinen Stall und horchte. Das schlug ihm aber übel an, denn wie die mitternächtige Stunde kam, hörte er deutlich einen seiner beiden Ochsen den ändern fragen: „Oggsahorn, was dom-mr morn?" Der andere gab zur Antwort: „Da Bur uff a Kirchhof füehra!" Ob diesem Gespräch erschrak der Mann so sehr, daß er gleich darauf starb und dann von den Ochsen auf den Friedhof geführt wurde, wie diese geweissagt hatten.
Andere erzählen die Geschichte aber auch etwas anders, sie sagen nämlich, der Bauer sei von jener Rede nicht erschrocken, sondern er sei zornig geworden und habe den Ochsen, der ihm so Übles prophezeit, durchprügeln wollen. Der aber habe seinen Herrn mit den Hörnern durchbohrt.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 163, S. 103f