270. Ins Tal Josaphat laden
Wo bei der hohen Illbrücke hinter der Heiligkreuzkapelle im Kehr verwitterte, winklige Häuser in schmalen Gäßchen stehen, wohnte vor vielen Jahren ein armes, altes Weib. Sie hatte nur Bettellumpen an und selbst Sonntags ging sie in den Knuspla. Da heiratete eine hoffärtige junge Frau in die Nachbarschaft und verhöhnte die Alte so sehr, daß sie zum Kinderspott wurde. Als die Alte eines Abends in ihren schlechten Kleidern und müde von der Arbeit heimging, geschah es, daß die Kinder sie ärger verlachten als je: „So eine noble Stadtfrau sollte einen Flor haben!" spöttelte das eine. „Und ein Halsnuster, es würde gut zum Häßwerk und den feinen Pantoffeln passen l" schrien andere. Sie lasen Geißbollen von der Straße auf, bewarfen sie damit und riefen: „Da hast die Böterle (Patern, Perlen) zum Halsnuster." Die reiche Frau aber stand unter ihrer Haustüre, sah alles mit an und stimmte mit Hohn ein in den Lärm der Kinder. Da wandte sich die Alte plötzlich mit bitterem Vorwurf nach ihr um. „Los, wir wollen einmal alles vor unserm Herrgott miteinander ausmachen." Die andere lachte noch lauter als vorher und sagte zu. — Bald darauf erkrankte das alte Weib und starb, und nur wenige Stunden nach ihr verschied unversehens auch die junge gesunde Frau. Im kleinen Heiligkreuz, wo oft lange kein Begräbnis ist, lagen zwei Leichen an einem Tage. Darob ergriff die Leute Entsetzen und schaudernd erinnerten sie sich, daß sich die beiden ins Tal Josaphat vor Gericht geladen hatten.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 270, S. 156