354. Die Laterne
Marul mit Kirchturm, Großwalsertal
© Berit Mrugalska, 17. Oktober 2005
Vor mehr als siebzig Jahren war in Marul ein Pfarrer, ein häßlicher Mann mit wulstigen Lippen, aber sehr fromm. Ein Mädchen half einmal seiner Köchin waschen. Abends weinte die Wäscherin und klagte, sie getraue sich nicht heim, weil ihr zwei Burschen, von denen jeder sie heiraten wolle, aufpassen werden. Da brachte ihr der Pfarrer eine Laterne mit einem Lichtlein darinnen und sagte, sie solle die Laterne nur brennen lassen, wenn es auch nicht dunkel sei; wenn sie zu den Burschen komme, solle sie ihnen ungeniert ins Gesicht leuchten, keiner werde sich rühren. Als das Mädchen zu den Burschen kam, standen die starr und stumm da und keiner gab ihm einen Blick; noch vom Kammerfensterlein aus sah es die Buben wie angewurzelt stehen. Am ändern Tage lachte der Pfarrer, er habe die Burschen bis drei Uhr in der Frühe stehen lassen, damit sie „verkuahla" könnten. Das Mädchen bekam aber, obwohl es sehr schön war, keinen Mann mehr, weil es für eine Hexe galt.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 354, S. 203