300. Vom Nachtvolk entführt
Wie die im Jahre 1808 geborene Anna Maria Gord in Thüringen im Alter von etwa acht Jahren vom Nachtvolk entführt wurde, das erzählt ihr jetzt noch lebender Sohn, d's Hansa Jokili:
Das Mädchen spielte mit einigen Kindern an einem Fronfastensamstag abends noch nach dem Aveläuten in den Baumgärten hinter dem Hirschen. Die kleine Schar bewegte sich dabei dem Bach entlang abwärts bis zur Gerbe, wo es nicht ganz richtig gewesen sein soll. Da kam plötzlich ein heftiger Windstoß und das Mädchen wurde in die Luft gewirbelt. Der mitspielende Josef Bertel rief noch den ändern zu: „Schaut, wie d'Amrei in der Luft tanzt!" Die ändern sahen es ebenfalls, aber bald entschwand sie ihren Augen. Erschrocken eilten sie nach Hause und erzählten das Vorgefallene. Der bekümmerte Vater (die Mutter lebte nicht mehr) machte sich mit ändern sofort auf die Suche, aber umsonst. Dem Pfarrer Walter (gest. 1852) wurde das Geschehene gemeldet und er sagte: „Da ist etwas anderes im Spiele." Er beriet sich mit den Kapuzinern in Bludenz, und mit Gebeten, Benediktionen und Messen suchten sie dem Spuk entgegenzutreten. Am dritten Abend endlich pochte es an der Tür und das Kind stand draußen. Zuerst sagte es: „Ich habe einen Schuh verloren." Das Mädchen war blaß und die Gesichtszüge waren fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Auf die Frage über das Erlebte sagte es: „Ich bin mit vielen unbekannten Leuten weit herumgezogen. Geplagt haben sie mich nicht, aber nur schlecht und unzureichend habe ich zu essen bekommen; ich habe Hunger und möchte am liebsten einen Koch (Schmarren)." Es aß dann von dem Gericht mit großem Appetit, mußte aber gleich sehr erbrechen; doch erholte es sich bald darauf wieder vollständig.
Einige Jahre später wollte der Vater einmal seinen in St. Gallen in der Lehre stehenden Sohn besuchen. Das Mädchen begleitete ihn. Als sie auf der Schweizer Seite den Berg hinanstiegen, kamen sie zu einem armseligen Häuschen, in dessen Nähe Arbeiter an einem Neubau beschäftigt waren. Da rannte aus der Hütte plötzlich ein Weib, das dort für eine Hexe gehalten wurde, packte das Mädchen und rief: „Dich hob' ich schon einmal gehabt; diesmal entkommst du mir nicht mehr!" Mit diesen Worten zerrte sie es in das Häuschen hinein, ohne daß es der Vater hindern konnte. Die Bauarbeiter nahmen jedoch für den Vater Partei und drohten, sie zu binden oder ihr die Hütte über dem Kopf anzuzünden, wenn sie das Mädchen nicht herausgebe. Auf diese Drohung holte sie es endlich aus dem Versteck hervor. Der Schrecken hatte es aber so sehr mitgenommen, daß es nur mit großer Mühe St. Gallen erreichen konnte und dort einige Wochen krank lag. Von da an blieb es von ähnlichen Anfechtungen frei.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 300, S. 173f