85. Das Plattenmötele
Rechts am Wege von Bezau nach Mellau steht auf einer Anhöhe ein Häuslein; dies Anwesen nennt man „am Beeg" (Berg). Links am Wege liegt ein schönes Gut, die Zangenau genannt. — Das Anwesen „am Beeg" gehörte einer armen verwitweten Frau mit acht kleinen Kindern. Armut und Not hausten hier in der Einsamkeit. Zangenau dagegen gehörte reichen Bauern. Im Frühling wurde da das Vieh auf die Weide getrieben. In dieser Zeit wurde die Milch am Ort selbst versennt. Den Bauern war die Not der Bergleute bekannt und so unterwiesen sie den Senn, diesen Leuten täglich eine Kanne „Seogen" (Zieger mit Schotten) und etwas Butter zu geben. Der Senn tat wie ihm befohlen.
Am Abend nach getaner Arbeit ging er hinauf auf d'Nachtstubat, da er mit den Leuten gut auskam. —
Ein Weiler von Reuthe, bevor man nach Zangenau kommt, heißt an der Platten. Da wohnte ein Bauernmädchen, welches den Senn in der Zangenau gern sah und lieber gehabt hätte, wenn er zu ihr auf Besuch gekommen wäre. Sie wußte es nicht wie anstellen, daß sie den Senn von den Bergleuten abwendig machen könnte und endlich fiel ihr ein, die Leute wacker zu verleumden. — Sie erzählte dem Senn, daß die Leute vom Berg über ihn schimpften. Dies erboste ihn sehr. — Als ein Kind die Gaben wieder holen wollte, wies der Senn ihm die Tür mit den Worten: „Ihr braucht nicht mehr zu kommen, denn böse Mäuler füttere ich keine." Die armen Leute wußten nicht was vorgegangen war; der Senn kam nicht mehr auf Besuch und weigerte ihnen das Versprochene zu geben. Nun sagten sie sich: zwingen wollen wir ihn nicht; Gott weiß schon, warum er uns diese spendende Hand entzieht. — Und so vergingen vierzehn Tage; als dann einmal die arme Frau von Mellau kam, wo sie „Stückle" (Sticketen für Pariserarbeiten) holte, hörte sie, daß das Plattenmötele plötzlich gestorben sei. Nach dem Begräbnis ging alles, wie bisher, vorwärts. Der Senn mied das Häuschen und die Leute.
Von dem unerwarteten Sterbefall wurde noch lange Zeit gesprochen. „Schade um die Motol (Mädchen), sie hätte eine gute Heirat gemacht", so wußte eine zu erzählen. „Ja mit wem denn?" frug eine Neugierige. „Der Senn von der Zangenau ging zu ihr auf d'Stubat und man sagte vom Heiraten." „So, habt ihr's auch gehört? Es fällt mir gerade ein, wie ihr vom Sennen redet, wie's die Bergleute dem Senn gemacht haben. Die Gaben haben sie geholt und nachher haben sie geschumpfen über ihn beim Plattenmötele. Die hat es dem Sennen erzählt, worauf der Senn den Bergleuten abgesagt hat." — Die Sprecherinnen merkten nicht, daß sie belauscht wurden. Die Frau vom Berghäuschen wartete auf Ware und hörte durch das offene Fenster das Gespräch. Die Worte taten ihr weh und wohl. Weh tat ihr, solches von sich reden zu hören. Wohl, daß sie das Rätsel gelöst fand, warum der Senn so bös und hart gegen sie verfuhr.
Spät abends kehrte die Frau vom Gang aus Mellau wieder heim, müde stellte sie die Bürde Stückle auf die Ofenbank und sagte dann zu den Kindern, die die Mutter ganz verscheucht ansahen: „Ja was ist denn los, daß ihr alle so still seid?" „Mamma, vor einer Weile kam die Plattenmotol bis zu unserm Häusle und dann sahen wir sie nicht mehr." Des ändern abends kam sie wieder und die Frau fand bestätigt, was die Kinder sagten; es kam wahrhaftig das Plattenmötele. Tags darauf ging die Frau zum Pfarrer und erzählte die Begebenheit. Der Pfarrer fragte: „Hat sie euch einmal was zu leid getan?" „Herr Pfarrer, ist's vielleicht das?" Da erzählte sie, wie das Plattenmötele, um den Liebhaber zu gewinnen, den Sennen anlog und sie um die Gaben brachte. „Das ist genug, die Seele muß leiden; das ist eine himmelschreiende Sünde, wenn man die Armen um die Gabe bringt und sie schädigt. Sollte sie wieder kommen, öffnet die Tür und sagt zu ihr: Es sei dir alles verziehen." Diesen Rat befolgte die arme Frau. Als das Mädchen kam und die Verzeihung erlangt hatte, verschwand es und kam nie wieder.
Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 85, S. 66ff