119. Schimpfen ist besser

Durch das vom Rauschen des Baches und dem unheimlichen Gestöhn der Wetzsteinschleifen erfüllten Farnach- oder Schwarzachtobel fuhr Anna Drexel von Farnach, als es noch dunkel war, in Begleitung ihrer Base Mile mit einem Handwagen voll „Klosowar" auf den Nikolausmarkt nach Dornbirn. Da trafen sie im Tobel auf der Straße ein Weib, das hatte das Regendach offen, trotzdem es nicht regnete und Mondschein war. Die Drexel, eine mutige Person, rief dem Weib zu: „Du verfluchte Hex, schau daß, du fort kommst!" Als dies nichts fruchtete, schimpfte und wetterte sie weiter, nahm endlich Steine auf und bewarf die Hexe damit. Dann wollte sie mit ihrem Wagen weiter. Der war aber wie angewurzelt. Die Drexel riß den Handwagen hin und her, daß die Sachen nur so herausflogen. Endlich nach einem kräftigen Fluch brachte sie den Karren wieder in Bewegung, Ihre Begleiterin aber, die Mile, die alles schweigend mitangesehen, hatte nachher Lippen wie zwei Schüblinge [Kaminwurzen, Landjäger]. Und das aus dem Grund, weil sie nicht auch gegen die Hexe aufgetreten war und geschwiegen hatte, statt sie tüchtig zu beschimpfen. Wer nämlich mit Hexen zu tun hat, kommt nach dem Wahn des Volkes immer besser davon, wenn er recht schimpft und flucht, als wenn er ruhig seiner Wege geht.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 119, S. 82f