Was die Sage von Dornbirn erzählt
Die Stadt Dornbirn ist als fleißige Spinnerin und Weberin bekannt. Tausende von Spindeln und Weberschiffchen drehen und gleiten dort jahraus, jahrein und winden und schwingen und queren in eiligem Wirbel und singen das Lied der Arbeit mit hastendem, eisernem Klange.
Aber schon ehe eiserne Arme, von der Kraft des Wassers bewegt, schafften und werkten, hat das Lied der Arbeit dort getönt und geklungen. Der Dornbirner hat bereits Gespinst und Gewebe gefertigt und in ferne Länder verkauft, als noch der Bauer in den Wald ging und mit bedächtigem Erwägen das passende Holz aussuchte, schlug und heimschaffte, damit es ihm diene zu Webstuhl und Spindel, zu Rad und Haspel. Und es hatte kein Dornbirner wie der Hesse im Märchen ein arglistiges, faules Weib, das ihm in den Wald nachlief und im Busch versteckt mit hohler Stimme rief:
"Wer Haspelholz haut, der stirbt!
Wer da haspelt, der verdirbt!"
— so daß der Mann die Axt voller Furcht sinken ließ und das Weib den ganzen Winter müßig auf der Ofenbank sitzen konnte.
Sobald im Herbste die Feldarbeit getan war, wenn die Äcker abgeräumt waren und der Wind das Laub von den Obstbäumen wehte, wurden die Spinnräder hervorgeholt und Hanf oder glänzender Flachs an die Kunkel gebunden. Auch der große, schwere Stütel (Webstuhl) wurde in der Stube aufgestellt, auf dem die Mutter dann winterlang, von froher Kinderschar umspielt, das Weberschiffchen durch den Zettel schießen ließ. Vielfach wob auch der Vater als Lohnweber im eigens eingebauten Webkeller vom frühen Morgen an. Des Abends kam dann das junge Volk gern aus den Nachbarhäusern mit Rad und Kunkel zur Spinnstubet zusammen, zu Arbeit, Scherz und Schwatz. Den ganzen Winter war in Dornbirn ein Spinnen und Zwirnen, ein Spulen und Haspeln, ein Weben und Wirken; es schwangen sich die Räder, es drehten sich die Fäden, es schossen die Schiffchen. In jedem Hause schimmerte neugefertigte Leinwand.
Nun geschah es in einer Spinnstube am Markt, daß sich Winter um Winter ein ärmliches altes Weiblein mit seinem Rade einfand. Stumm setzte es sich in einen Winkel und spann. Niemand kannte die Alte, allein man ließ sie gewähren. Doch fragte auch keiner, warum das Mütterchen wohl komme, ob es ihm vielleicht an Holz mangle, um seine Stube zu wärmen, oder ob es ihm zu traurig sei in der verlassenen Einsamkeit seines Daheims. Sie hatten es alle eifrig, auf den Faden zu achten und die Räder surren und schnurren zu lassen, waren fleißig und zeigten sich flink und emsig und lachten mit den Buben, die sich hier wie in jeder Spinnstube einstellten. Des Weibleins achtete niemand. Nur einem Burschen tat es leid, wie es immer so still und traurig dasaß. Einmal, als er wieder mitleidig nach ihm blickte, fiel ihm auf, daß es das Rad verkehrt drehe. Er setzte sich neben die Alte, sah ihr eine Weile zu und fragte dann gutherzig: "Mütterle, immer links um?" Als er dies Wort gesprochen, glitt ein heller Schein über ihr Gesicht. Sie stand auf und winkte ihm, ihr zu folgen. Der Bursche tat es wie in einem Bann. Sie führte ihn durch Nacht und Schnee zu einem einsamen, mit Gestrüpp bewachsenen Ort und sprach: "Soviele Jahre hab ich linksum gesponnen! Erst du hast auf die Alte geachtet — zu deinem und meinem Glück. Grabe, was du findest, ist dein Lohn." Dabei wies sie mit ihrer Kunkel die Stelle und verschwand. Der Bursche tat nach ihrem Wort und fand einen reichen Schatz, lauter schwere Silbertaler, einen großen irdenen Hafen voll. — Warum das alte Weiblein geistern mußte, weiß niemand, und niemand weiß, warum es jahrelang auf ein gutes teilnehmendes Wort hatte warten müssen, bis es seinen vergrabenen Schatz zeigen durfte. Durfte oder wollte es ihn nur Einem weisen, der ein Herz hatte für Armut und Verlassenheit, damit der Schatz nicht mehr tot in der Erde liege, sondern er ihn hebe und nutze, sich und anderen zum Segen?
Warum aber der Stoufo-Schwizer geistern muß, weiß jedes Kind. Am Hange des Staufens, des hohen, spitzen Bergkegels, der sich, als das Wahrzeichen Dornbirns, steil emporragend über der Stadt erhebt, geht der Stoufo-Schwizer um. Schauerlich tönt sein Johlen nachts in der Einsamkeit der Bergwiesen. Dann hört man es durch Hage und Zäune brechen und wie Rufen und Viehtreiben. Ein tückischer Senne war er, der die Bauern schädigte und sein Vieh auf ihre Eigenweiden und Hochmähder trieb. Zur Strafe muß er geistern. Nachts jagt es ihn auf und ab über die gähen Hänge. Er muß das Vieh zurücktreiben, und es gibt für ihn keine Ruhe.
Auch warum der Büntlittenbock geistern muß, weiß man. Er ist ein Marksteinversetzer. Für seinen Frevel muß er Nacht um Nacht in Gestalt eines feurigen Bockes die Büntlitten auf- und abrennen und springen und glühen, bis seine Stunde vorüber.
Im Ried wacht ebenfalls unheimlicher Spuk auf, sobald sich die Nacht über das breite Tal herabsenkt.
Aus der einsamen Öde, die sich meilenweit bis zum Rhein und See hinzieht, und wo man in tiefen Gräben fremdartiges Gewaffen finden kann wie auch unter der feuchten Erddecke in sumpfigem Grunde, sich zu fester Unterlage eng aneinanderschließend, die schweren Eichenbohlen der -alten Römerstraße, die das Tal überquerte, steigen in der Nacht Irrlichter auf, vom Volke Brenner genannt. Sie glühen, huschen, schwinden und schweben wieder auf mit mattem Schein. Büßende Seelen sind es, die ruhelos über die traurige, feuchte Fläche irren müssen. Durch Gebet können sie erlöst werden. Früher sah man deren viele Hundert, jetzt aber sieht man nur noch hie und da einen Brenner fern und verloren im Ried aufleuchten.
Der Hotterer kann aber nicht erlöst werden; er braust und wütet nächtens in den Rheinauen durch die Lüfte. Und wenn ein Fuhrmann verspätet von Lustenau herauffährt, kann es geschehen, daß sich der Hocker zeigt. Ein feuriger Mann ist es, der sich drohend und wortlos auf sein Roß schwingt. Geplagt schäumt es auf; mit Schweiß überrennen bleibt es stehen und vermag den Wagen nicht mehr zu ziehen, bis der Feurige wieder verschwindet. Daß dieser ein Mordbrenner und Wegelagerer gewesen sei, der für seine Untaten nun selbst brenne, weiß das Volk.
Auch der Pfellar-Pfifar war ein Räuberhauptmann und Mordbube. Wo die Straße von Schwarzach nach Dornbirn, am vorspringenden Berghange vorbei, beim Pfeiler durch dichten Wald führt, hat er sein Unwesen getrieben, auf Wanderer und Gefährte gelauert und den Spießgesellen mit wildem Pfiff das Zeichen zum Überfall gegeben. Nun muß er am Orte seiner Missetaten in Gestalt eines mächtigen schwarzen Vogels geistern. Sein schwerer Flügelschlag rauscht durch das Dunkel der Nacht. Dann gellt und schrillt sein Pfiff durchdringend und gespenstisch bald fern, bald ganz nah, bald hoch herab aus den Lüften, dann wieder von der Seite her, und unheimlich schwingen die breiten Fänge. Rosse, die den Pfellar-Pfifar hören, zittern am ganzen Leibe und stieben, von Furcht gejagt, vorwärts. An einsamer Stelle steht noch ein Bildstock, der an eine seiner schweren Mordtaten erinnert.
Auch andrer nächtiger Graus umdüstert die Landstraße.
Am Scheidbach, der Grenzmarke gegen Schwarzach, übersprengt sie querfeldein eine gespenstische, bewaffnete Reiterschar in der Richtung nach dem Schwarzacher Schloß. Und von Bregenz herauf jagt über sie der Klushund mit feurigen Augen und feuriger Zunge dem Oberland zu. Es ist der Verräter, der im Dreißigjährigen Kriege die Schweden bei Bregenz über die Höhe des Pfänderstockes unseren Kämpfern in den Rücken führte. Scheuen Laufes durcheilt er Dornbirn. Schwere Blutschuld treibt ihn hier; denn die Streiter dieses Gerichtssprengels mit ihrem Hauptmann Rhomberg fielen damals trotz tapferster Gegenwehr bis auf den letzten Mann. Noch zeigt der Rhombergstein am Haggen hoch über dem See den Platz, wo sie starben.
Wo eine alte Gerichtsstätte war, weiß das Volk oft von einem Hexenplatze. Auch jene bei Stiglingen, dem heutigen Haselstauden, galt als solcher. Todbringender Schlangenzauber machte diese Gegend unsicher. Wenn sich jemand müde in der Mittagsglut unter einen Wustbaum legte und entschlief, kam die gefürchtete Schlange geschlichen und legte ein fünfblättriges Kleeblatt auf sein Herz. Hierauf schoß sie vom Baum auf dasselbe herab und bohrte sich, ein zischender Tod, in den Leib des Schläfers. Ein frommer Bauer jedoch wurde durch ein dankbares Heggöaßle (Eidechse) gerettet. Er liebte alle Tiere und am meisten die Heggöaßle, die so hurtig durch Gestein und Gestäude schlüpfen. Denn als unser Herr am Kreuze hing, ist dieses liebe Tierlein den Kreuzesstamm hinaufgekrochen und mitleidig hat es dem Heilande das heilige Blut von den Wunden seiner Füße und Hände geleckt. Seither trägt es zum Lohne das Abbild der Leidenswerkzeuge, Hammer und Nagel, Kreuz und Dornenkrone in seinem Gerippe. Darum mochte es der Bauer nicht leiden, wenn unbewachte Kinder ein Heggöaßle quälten, und wehrte es ihnen und schützte die Tierlein. Als er nun einmal, müde von der Arbeit, unter einem Baume entschlief, und ein Heggöaßle sah, wie eine solche Schlange sich herwand und ihm ein Kleeblatt aufs Herz legte, huschte es schnell hin und entfernte es, während die Schlange den Baum erkletterte. Gleich darauf schoß sie von demselben herab. Doch sie konnte das Herz nicht treffen; sie mußte nach dem Fünfblatt schießen und zerschmetterte auf dem Steine, wo es lag. Seitdem wird dieses Gezücht nie mehr gesehen.
Unterhalb Knüwen, wo früher die Schmelzhütten standen, zu denen die Eisengasse hinausführt, die daher den Namen hat, geht ein schwarzer Mann um mit breitkrempigem Hut und Stiefeln mit feurigen Sporen und trägt einen Bund feuriger Scheiter auf dem Rücken. Manche haben auch gesehen, wie er vom See heraufgeritten kam, ehe er seine Feuerslast zu tragen anfing.
Aus der dunklen, engen Schlucht des Rappenloches hervor, der Ache entlang, saust der Wuetas mit Singen und Tosen, und in finsterer Felskluft birgt sich ein Lintwurm.
Auf einem Lintwurm kam früher auch in jeder heiligen Nacht ein fähriger Schüler in die Gegend. Noch zeigt man in der Belzreute bei Hohenems ein Bauernhaus, bei dem er das Tier jedesmal anband. Dann stieg er auf die Spallafluh, wo in einer Felsspalte Gold herabtropft. Dieses füllte er in einen Krug und fuhr wieder auf seinem Drachen davon. — In uralter Zeit, als das Rheintal ein weiter See war, hat die Flut bis zu dieser Höhe des Spallen gereicht, das ganze Gelände des jetzigen Dornbirn mit ihren tiefen Wassern bedeckend. Noch kann man hoch oben an der ragenden steilen Felswand zwei Eisenringe sehen, an denen damals die Leute ihre Kähne angebunden haben.
Gold wäre auch bei den alten zerfallenen Burgen zu finden.
Beim Baue des Glopperhofes in Ems ist ein ganzes Säckchen mit Goldstaub zutage gekommen, und auf dem Stiglingerberg bei Knüwen, wo die Grundmauern dieser alten Burg zwischen Wasen und Gestrüpp gesehen werden, ringelt in mondhellen Nächten eine goldene Schlange durch das Gestein. Sie bewacht den Burgschatz, den noch keiner gehoben.
Die Sigberger zu Mühlebach auf dem Bürgle, dessen zerbröckelnde Mauerreste an der Höhe ober der Stampfmühle beim Waldrande stehen, haben ebenfalls Schätze vergraben. Furchtbare Zwingherren und Leuteplager waren es, die den Bauern oft das letzte Stück Vieh aus dem Stalle holten und das einzige Schwein aus dem Kofen. — Ein Schatz liegt auf den Böden zwischen Elsenälpele und Bömmert. Diesen forschten drei fremde Männer aus und wollten ihn mit einem Bauern aus dem Schorle heben, den sie bei tiefer Nacht mit Nennung seines Namens aus dem Hause holten. Dabei befahlen sie ihm, keinen Laut von sich zu geben. Schweigend stiegen sie durch das Dunkel bergan. Auf den Böden an einem Platze, den die Männer stumm bezeichneten, stellten sie sich im Umkreise auf. Einer der Fremden trat in die Mitte und las aus einem großen, dicken Buche Beschwörungsformeln. Plötzlich hörte man ein unheimliches Rauschen, ähnlich wie von einer stürzenden Tanne, und der Schatz zeigte sich in großer, eiserner Kiste, von einem mächtigen schwarzen Hunde bewacht. Da schrie der Schorlebauer vor Schreck laut auf, und sogleich war alles verschwunden. — Einen zweiten Schatz hatten die Sigberger im unterirdischen Gange vergraben, der von ihrer Burg zum Mühlebach hinabführte. Ein Bäuerlein aber, das sie ins Burgverließ geworfen hatten, soll den geheimen Ausgang entdeckt haben und mitsamt dem Schatze entflohen sein. — Noch jetzt kann man bei der Burg auf die schrecklichen unterirdischen Gelasse stoßen, in denen die Gefangenen elend verschmachten mußten, und im nahen Holzwege hört man um Mitternacht Getöse und Rollen und markerschütternde, gellende Schreie. Die Geister der grausamen Zwingherren sind es, die dort umgehen müssen.
Die älteste Veste aber im weiten Umkreise war das Oberdorfer Schloß, der Turm von Tornbürn, aus dem Jakob von Ems geharnischt und mit wehenden Bannern auszog, um auf den Schlachtfeldern Italiens an der Seite des ritterlichen Bayard zu kämpfen. — Sagenhafte Überlieferung meldet, daß an der Stelle des Oberdorfer Schlosses schon ein römischer Wachtturm gestanden, und daß der mittelalterliche, mächtig und trotzig aufragende Turm auf römischem Fundamente erbaut gewesen sei. Vormals in längst verschienenen Zeiten sei dort das Geschlecht der Thurnher gesessen; es hat daher den Namen; weit verzweigt blüht es noch heute.
Um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts war der Turm abgegangen, wohl von den Appenzellern zerstört. Ein Seitenast der Emser erbaute ihn alsdann mit weiter Umwallung aufs neue. Doch haftet an diese Emser, die mit Jakob, dem Landsknechtsführer, stolz aufstiegen, um rasch wieder zu erlöschen, im Volk keine Erinnerung. Sie sind vergessen. — Unvergessen aber ist im Volke, daß der Turm in späterer Zeit der Sitz des Tigens von Dornbirn war, des Gerichtes über Freie und Eigenleute, wo finstere Richter mit dem Rechte des Blutbannes amteten. Bis vor ungefähr hundert Jahren stand er schwer und wuchtig, aus grauem Sandstein gemauert, an den Ecken von vier Erkern flankiert. Dann wurde er abgebrochen, und damit vertönte das gequälte Wimmern, Winseln und Röcheln, das man nachts in den beiden berüchtigten Räumen, dem Herren- und dem Hexenstüble, gehört hat.
Gleichzeitig mit dem Baue des Turmes hatten die Edlen von Ems auch die erste Kirche im Oberdorf errichtet. Sie schloß an die Ringmauer der Burg und wurde dem hl. Sebastian, einem Schützer gegen die Pest, geweiht; denn wiederholt schon hatte diese Dornbirn heimgesucht. Mit Kriegsvolk aus dem Welschland oder aus Ungarn kam sie über die Heerstraße gezogen.
Vor allem ist im Volke die furchtbare Seuche von 1628 in Erinnerung. Schrecklich wütete die Pest in diesem Jahre. Menschen und Vieh verdarben. Der Weiler Kehlen soll bis auf zwei Männer ausgestorben sein. Ebenso verödete ganz Hatlerdorf, wo damals zwanzig Häuser standen. Nur ein altes Weiblein mit seiner Hattel, einer hörnerlosen Ziege, blieb am Leben. Noch zeigt man das Haus, wo es allein übrig im menschenleeren Weiler gewohnt hat. Es ist jenes des Mesners neben der Kirche.
Auch im Oberdorf und im Markt raffte die Pest Unzählige dahin. Schaurig tönte bei jeder einbrechenden Nacht die Glocke des Totengräbers durch das Dorf, der mit seinem Wagen Weiler und Gassen entlang fuhr und sich so ankündete. Wo in einem Hause ein Verstorbenes lag, öffnete sich beim düstern Klange seiner Glocke die Tür, und hastig, voll scheuer Furcht, wurde der Leichnam auf den Wagen gelegt. Niemand mehr wagte, den Toten das Geleite zu geben.
Treue innige Liebe aber raubte selbst dem grausen Pesttode eine Beute. Es war ein junger Bursche, der ein Mädchen aus der Nachbarschaft von Herzen gern hatte. Da sah er eines Abends mit Schrecken, wie sich beim Nahen des Totenwagens die Tür ihres Hauses öffnete und man sie als Leiche auf den mit Toten belasteten, grauenhaften Karren legte. Voll Weh folgte er demselben, von tiefem Schmerze zerrissen. Auf einmal aber tönte es in seinem Innern: Sie ist nicht tot! — Der Gedanke kam und wurde stark. Er konnte nicht anders; er trat zum Wagen. Den Tod verachtend, beugte er sich über die Geliebte und fühlte Leben in ihr. Da riß er sie in seine starken Arme, trug sie in sein Haus und pflegte sie. Seine große hingebende Liebe wurde belohnt. Das Mädchen genas und wurde sein Weib. Zum Danke für ihre Errettung nannten die beiden den ersten Knaben, den sie ihm gebar, nach jenem Heiligen,
welcher der größte Helfer in der Pestnot ist, Rochus. Von ihm stammt ein kraftvolles, schönes Geschlecht; Rochusses heißt man es.
Auch von bitterm, mütterlichem Schmerze wird erzählt. Es ist die bekannte Sage: Einer Mutter starb der junge einzige Sohn, und sie weinte um ihn ohne Unterlaß. Da erschien er ihr nachts, ein Ständele voll des von ihr vergossenen Tränenwassers in den Händen, und flehte: "Weine doch nicht mehr, Mutter! So schwer schon ist die Last deiner Tränen. Bete lieber für mich!" Sie befolgte des Toten Wort, und stiller Trost kam in ihr Herz.
An die schwere Pestzeit des Dreißigjährigen Krieges erinnert der Bildstock, der beim Weg ins Oberdorf an der Kreuzstraße steht; und in einer Nische der alten Friedhofmauer am Markt, die 1838 beim Neubaue der Kirche abgebrochen wurde, befand sich eine Holztafel mit der Inschrift:
"Klag', Klag' über Klag'!
77 Tote in einem Grab'!"
So groß und furchtbar war die Mahd, welche die Pest- an einem einzigen Tage hielt. Denn jeden Tag wurde für die Toten desselben eine neue weite Grube geöffnet zu gemeinsamer Ruhestatt.
Uralt ist die Pfarre in Dornbirn; wo sich jetzt die dem hl. Martin geweihte Kirche des Marktes mit ihrem hohen, sechssäuligen, griechischen Portikus erhebt, ist schon vor einem Jahrtausend ein Gotteshaus gestanden. Eines der ältesten Baudenkmale Dornbirns ist jedoch das Rote Haus, das, ein Bild des Mittelalters, holzgestrickt und hoch aus mächtigen Stämmen gefügt, mit dem heimeligen roten Anstriche des ehemaligen Rheintalhauses zur Kirche hinübergrüßt. Bereits die Appenzeller haben — wie erzählt wird — daselbst einen Schoppen getrunken, als sie zum Burgensturm ins Land gekommen waren.
Die große Glocke aber, die im Turme der Martinspfarrkirche hing, war seit jeher der Stolz der Dornbirner. Die beste Wetterglocke weit und breit im Lande war sie. Manch Jahrhundert hat sie mit ihrem Klange die Wetter vertrieben, denn ob sie auch brauten und dräuten, ob Strahl auf Strahl niederzuckte — sobald die "Große" von Dornbirn zu läuten anfing, war die unheilschwangere Macht gebrochen. Im ganzen Rheintale kannte man die Kraft der Glocke, und wenn ein Unwetter am Himmel stand, horchten und lauschten selbst in den fernen Dörfern die Leute voll
ungeduldiger Erwartung, ob sie nicht bald anschlage. Die Schweizer hätten sie gern zu Eigen gehabt und wollten sie der Marktgemeinde abkaufen. Soviele Silbertaler, als im weiten Schallraume der Glocke Platz fänden, haben sie geboten. Den Dornbirnern aber war ihre Glocke teurer als alle Schätze der Welt. Sie ließen sie nicht, auf daß sie auch fürder ihre Häuser schütze und den Feldwuchs, die Unwetter banne und Segen bringe. — Wenn die Dornbirner die Wetterglocke jetzt nicht mehr haben und sie diese in der Zeit des Ersten Weltkrieges hingaben, so geschah es wahrlich nicht um Geld und Gut. Sie opferten sie in harter Kampfesnot und dem vergebenen Hoffen, daß das Erz der Glocke, in Schlachten schütternd und dröhnend, vielleicht das Vaterland aus dem unheilvollsten Sturme rette, der es je bedroht.
Solches und anderes, was Geheimnisvolles berührt und dunkle verdämmerte Erinnerung, wurde in den Dornbirner Spinnstuben beim Schnurren der Räder erzählt, und noch heute bewahrt es die Sage. Um Gegend und wechselnde Zeiten zieht sie ihre Schleier, ein Gespinst und Gewebe von altem Volksglauben und altem lastendem Geschehen.
Auch um unser Jahrhundert wird sie dereinst ihre Schleier werfen und schlingen. Was wird sie von dieser Zeit berichten, welche Berge durchbohrt, durch Felsen sieht, Heere durch die Luft brausen läßt, den schwachen Ton eines Wortes noch in fernen Ländern vernehmbar macht und die Riesen der Naturgewalten in ihren Dienst spannt, den schmetternden, zuckenden Blitz, den gleitenden, wellenden Strahl und die splitternde furchtbare Kraft der Atome?
Quelle: Was die Sage von Dornbirn erzählt, Anna Hensler, in: Die Gartenstadt Dornbirn, Dornbirn 1951, S. 93ff