Das Heidenglöcklein von Tisis
Wo das hügelige Gelände von Tisis schroff und felsig zum Riedgrund abfällt, steht inmitten zerfallender Friedhofmauern ein altehrwürdiges Kirchlein. Im schlanken viereckigen Turme mit dem Satteldach hängt als mittelgroße der drei Glocken das „Heidenglöcklein". Sein Klang gilt dem Hinscheiden, doch auch beim festlichen Zusammenläuten Sonntags hallt es mit weichem, mahnendem Tone. Es trägt keine Jahrzahl, und am obern Rande steht mit gotischen Lettern die Inschrift: O. REX. GLORIE. VENI. CHRISTE. CUM. PACE.
Von diesem Glöcklein erzählt die Sage:
In uralter Zeit war das braune Ried, über das die Wildente flattert, ein weiter See, und der Fels ragte steil hinein. Am äußersten Vorsprung stand ein kleiner Götzentempel. Dahin fuhren die wilden Heidenleute in Kähnen rings vom Gestade. Sie brachten Opfer in großem, kupfernem Kessel dar und feierten abergläubische Feste, obwohl die Heilsbotschaft bereits verkündiget worden. Einst aber am Christtage, als sie nächtlicherweile wieder ein Gelage hielten, stürzte der Fels jäh ab, und das Wasser verschlang den Götzentempel und die Heidenleute ohne Spur. Als frühmorgens Christen hinkamen, fanden sie nur den großen Kupferkessel am Schrofen hängen. Da bauten sie die Kirche, die noch jetzt mit grauem Gemäuer weithin über das Tal hinausschaut, und aus dem Opferkessel gössen sie ihre erste Glocke, daß sie ihnen zum Gottesdienste läute. Das Heidenglöcklein heißt sie bis heutigentags.
Im Laufe der Jahrhunderte schwand der See mehr und mehr, und Streue bedeckt nun die öde Strecke. Doch am Felsbruch ist eine Stelle, wo der Grund jedem Tritte weicht. Im Winter sieht man sie wie einen schmalen, schwarzen Streifen. Es ist das "bbodenlose Grüble", worin der Heidentempel begraben ist.
Quelle: H. Hensler-Watzenegge, in: Rund um Vorarlberger Gotteshäuser, Heimatbilder aus Geschichte, Legende, Kunst und Brauchtum, Bregenz 1936, S. 9