DER EWIGE JUDE

Von Zeit zu Zeit kommt der ewig Jud ins Land, so erzählt das Volk um Lustenau.

Zwar fragen die jungen, wenn sie es von den Alten erzählen hören: "Wann ist er denn das letztemal dagewesen und wann wird er etwa wiederkommen?" Man merkt es dann, sie möchten halt den steinalten Mann, wie er mit seinem langen weißen Bart in seiner seltsamen Tracht am Wanderstab daherlauft, auch einmal sehen. Die alten Leute, die ihn gesehen haben, entgegnen darauf. "Wann der ewig Jud wieder durch unser Dorf wandern wird, das läßt sich schwerlich sagen; denn er muß in der ganzen Welt herumlaufen, soweit es Christenmenschen gibt, zur Strafe dafür, daß er Christum von seiner Türe weggewiesen hat. Als die Juden unseren Herrn auf den Kalvarienberg führten, wollte er, ermattet von dem schweren Kreuztragen, vor der Haustüre dieses Juden ein wenig niedersitzen und ausrasten. Wie ihn aber Christus darum bat, trieb' ihn der Jude unbarmherzig von der Türe weg. Darauf hat der Herr zu ihm gesagt: "Weil du mir diese Rast nicht gegönnt hast, so sollst du von der Stund an wandern, solange die Welt steht, bis zum jüngsten Tag." Und noch in derselbigen Stund hat der Jude, welcher ein Schuhmacher war, sein Kind vom Arme weg und auf den Boden gestellt und ist, ohne von seinem Weibe Abschied zu nehmen, alsogleich auf und davon in die Welt hinaus und muß jetzt laufen und wandern bis zum Ende der Welt.

Damit er aber zehren könne, so hat er immer einen Groschen im Sack, und so oft er ihn ausgibt, läuft er nur dreimal um den Tisch herum, und ein Groschen ist wieder im Sack.

Diesen Groschen wechselt er nie und verzehrt überall, wo er hinkommt, nur diesen und nicht mehr. Das letztemal, als er in Lustenau war, blieb er bei Gevatter Jokubs übernacht. Da ist ihm denn auch, und gewiß nicht das erstemal, ein Kruzifix vorgekommen, welches die Leute, wie gebräuchlich, im Herrenwinkel aufgehängt hatten. Wie das der Jude sieht, ist er in Entsetzen und Wut verfallen. Ja, wahrlich! die ganze große Sünde, wie er sie einmal begangen hat, muß ihm zentnerschwer auf sein Gewissen gefallen sein, sonst hätte er nie in so entsetzliche Wut kommen können, wie es dazumal geschehen ist. Endlich hat es den Juden wieder fortgetrieben auf seine ewige Wanderung, und die Leute sind gewiß von Herzen froh gewesen, wie er einmal aus der Türe draußen war."


Quelle: Die Sagen Vorarlbergs. Mit Beiträgen aus Liechtenstein, Franz Josef Vonbun, Nr. 55, Seite 77