DER STIER IM SÜNSER SEE

Im kleinen See der Alpe Süns haust der Sünser Stier. Er taucht aus der Flut hervor, schwimmt ans Ufer und schreckt das Alpvieh, das in wilder Flucht davonstürmt. Dann hat der Kühbub einen harten Tag, bis er die versprengte Herde wieder gesammelt hat, wenn nicht gar ein oder das andere Stück über die Felsen gestürzt ist. Einmal kamen Fremde in die Alp und einer der Sennen erzählte den Gästen vom Treiben jenes Unholds. Aber die Besucher glaubten die Geschichte nicht und als sie abzogen, warfen sie im Obermut Steine in den See und riefen dem Stier allerlei Schmähworte zu. Alles blieb ruhig. In der Nacht aber wurden die Alpleute durch einen wahren Höllenlärm aus dem ersten Schlaf aufgeschreckt. Das Dach der Sennhütte erbebte unter furchtbaren Stößen und gewaltigem Getrampel und drohte einzustürzen. Der Stier tobte draußen, und da die Türe gut verschlossen und gesegnet war, wollte er sich einen Eingang durch das Dach verschaffen. In dieser großen Gefahr bekreuzten sich die Alpknechte und verließen nach kurzer Beratung in aller Stille die Hütte, um sich mit mächtigen Stangen zu bewaffnen und den Feind abzuweisen. Als der Stier die stangenbewehrte Mannschaft entschlossen zum Angriff vorrücken sah, brach er in ein Gebrüll aus, daß die Berge ringsum widerhallten, sprang in einem Satz vom Dache und verschwand in den schäumenden Wellen. In jenem Jahr erfiel am meisten Vieh, obwohl der Stier nicht sobald wieder erschien.


Quelle: Die Sagen Vorarlbergs. Mit Beiträgen aus Liechtenstein, Franz Josef Vonbun, Nr. 75, Seite 88