Der Kapellefeldgeist
In früheren Zeiten lebte die Bevölkerung fast ausschließlich vom Ertrag ihrer Felder und Äcker. Streitigkeiten um Grund und Boden waren daher nicht selten. So stritten sich dereinst auch zwei Bauern um einen in der Nähe der Lorettokapelle gelegenen Acker. Das Gericht hatte zu entscheiden, welchem von beiden der Grund gehöre. Bei der Verhandlung schwur der eine in seiner Gewissenlosigkeit einen Meineid und setzte sich dadurch in den Besitz des Bodens. Der Meineid aber galt als eine der schwersten Sünden. Wie die Sage berichtet, mußte der meineidige Bauer zur Strafe nach seinem Tode jede Nacht umgehen. Da man früher noch an Geister glaubte, behaupteten viele Leute, den Kapellefeldgeist — denn so wurde er im Volksmund genannt — gesehen zu haben. Manchem erschien er mitten in der Nacht als finstre, übermächtig große Gestalt; andere wollten sogar gesehen haben, wie er mit Hacke und Schaufel auf dem unrechtmäßig erworbenen Acker arbeitete.
Es mag mehr als hundert Jahre her sein, da ein Stalder Bauer um die Geisterstunde auf dem einsamen Feldweg heimwärtsschritt. Als er an der Kapelle vorüberging und sich nach alter Sitte bekreuzte, sah er auf dem Geisteracker tatsächlich eine Gestalt, die zu arbeiten schien. „Der Kappilifäoldgôuoscht“, sagte er halblaut vor sich hin und verhielt Schritt und Atem. Einen Augenblick lief es ihm kalt über den Rücken. Da er aber ein beherzter Mann war, der in seiner Jugend Kriegsdienste geleistet hatte, faßte er Mut und entschloß sich, der alten Geistergeschichte auf den Grund zu gehen. Furchtlos schritt er auf die dunkle Gestalt zu, blieb einige Schritte vor ihr stehen und sagte: „Bist du ein Geist, so sag es mir, damit ich dich erlösen kann!“ Erschrocken ließ der Kapellefeldgeist die Hacke fallen und ergriff die Flucht. Es stellte sich heraus, daß der Besitzer des Ackers selbst der vermeintliche Kapellefeldgeist war, der die sagenhafte Geschichte und die Geisterstunde dazu benutzte, seinen Acker auf Kosten des Nachbars zu vergrößern, indem er den Markstein um eine Furche verrückte.
Quelle: Brauchtum, Sagen und Chronik, Hannes Grabher, Lustenau 1956, S. 27