LONGINUS VON MONTFORT
Während der Regierungszeit des römischen Kaisers Augustus wurde auf dem montfortischen Schloss Niederklaus bei Götzis dem damals regierenden Grafen von Montfort ein Knäblein geboren, das Longinus genannt wurde. Als es erwachsen war, schickte der Vater den Sohn zu Kaiser Tiberius nach Rom, damit er im Kriegshandwerk unterwiesen werde. Der Kaiser übergab ihn einem Hauptmann, der ebenfalls Longinus genannt wurde. Er schickte beide samt mehreren Soldaten nach Jerusalem zu Pontius Pilatus. Als Christus der Herr gekreuzigt werden sollte, wurden beide von Pilatus auf den Kalvarienberg kommandiert, um der Kreuzigung beizuwohnen. Als aber Jesus am Kreuz verschieden war, nahm Longinus von Montfort seine Lanze und öffnete die heilige Seite und das Herz Christi, aus dem Blut und Wasser floss.
(nach Johannes Häusle)
Über zweieinhalb Jahrhunderte sind vergangen, seit „Johanneß Heüßly“ in seiner „Ranckhweilischen Cronica“ von diesem denkwürdigen Ereignis erzählt hat, und wer seinen Bericht zum ersten Mal liest oder hört, wird wohl nicht wenig überrascht sein. Eine der „uhralten Schriften“, auf die er sich dabei berufen kann, ist natürlich das Johannes-Evangelium; übrigens das einzige der vier Evangelien, in dem die geschilderte Begebenheit unter dem Kreuz erwähnt wird (19,34). Namen werden allerdings keine genannt, es heißt nur von einem der Soldaten, der mit der Lanze in die Seite des Herrn stach, „und sogleich floss Blut und Wasser heraus“.
Longinus war jener Offizier, der mit andern Soldaten zusammen unterm Kreuz stand und auf Befehl des Pilatus auf diese Art den Tod des Herrn mit Sicherheit feststellen wollte. So jedenfalls erzählt es Jacobus de Voragine in seiner berühmten „Legenda aurea“, dem im Mittelalter nach der Bibel meistverbreiteten Buch. Der Dominikaner, ein Zeitgenosse und Mitbruder des großen Thomas von Aquin, weiß über den Offizier Longinus einiges zu berichten, und Johannes Häusle scheint auch davon gehört zu haben. Von zwei Trägern des Namens Longinus ist beim Legendenautor des 13. Jahrhunderts allerdings nichts zu lesen. Auch die Bemerkung des Rankweiler Chronisten, wonach beide Soldaten Zeugen bei der Auferstehung Christi gewesen seien, fehlt im Legendenwerk des Dominikaners. Von der wundersamen Heilung der schmerzenden Augen eines Longinus berichten dagegen beide Autoren, nur dass Häusle dies von seinem montfortischen Landsmann erwähnt. Als dieser nämlich zugestochen hat, rinnt das Blut Christi an der Lanze herunter, er berührt mit dem Blut seine Augen und „hat ain guthes Gesicht gekommen“. Später geben beide das Soldatenleben auf, lassen sich von den Aposteln unterrichten und werden schließlich „gemartheret und enthaubteth“. In der „Legenda aurea“ sind die Torturen säuberlich aufgelistet. Nach den üblichen Quälereien wie Zähne ausschlagen, Zunge abschneiden usw. zerschmettert Longinus trotzdem weiterhin Götterbilder; die Dämonen fahren in die anwesenden Helfershelfer und vor allem in den Richter, der zudem noch blind wird. Da verrät ihm Longinus, dass er sich nur retten könne, wenn er ihn töte. Prompt lässt ihn der Richter enthaupten, wirft sich anschließend zu Boden und bereut unter Tränen seine Tat. Augenlicht und Gesundheit stellen sich wieder ein, und „bis zum Ende seines Lebens verharrte er in guten Werken“.
Die üblichen Zutaten einer Märtyrer-Legende des 13. Jahrhunderts also und kein ersichtlicher Grund, sich noch weiter damit zu beschäftigen. So ist man wohl beim ersten Lesen versucht zu sagen. Doch dann bleibt der Blick am Namen „Longinus“ hängen. Ist es etwa sein Beiname? Ist er ein besonders hochgewachsener Soldat? Vielleicht ein Germane, dem seine Mannschaft diesen Übernamen verpasst hat? Warum nicht!
Germanische Truppen sind um diese Zeit des öfteren in den gefährlichen Provinzen des Ostens eingesetzt worden. Auch aus unserem Gebiet ist bekannt, dass die Römer nach ihrer Eroberung der Alpenländer einen großen Teil der männlichen Bevölkerung in ihr Heer gesteckt haben, und aus Brigantium liegt ein schriftlicher Beleg über eine Legion vor, die sich im März hier bei uns am Bodensee und im darauf folgenden Oktober bereits in Persien aufhält. Bei 40-km Fußmärschen pro Tag, wie sie von einem römischen Soldaten erwartet wurden, lässt sich so etwas ohne weiteres machen!
Longinus - ein Germane! Wir scheinen uns mit unserer Vermutung auf der richtigen Spur zu befinden, denn in einem Buch mit schwäbischen Sagen wird doch tatsächlich von einem Hauptmann Longinus aus Zöbingen bei Ellwangen erzählt. Doch es kommt noch besser! Er habe den Seinigen nach Hause geschrieben, in Jerusalem sei kürzlich ein merkwürdiger Mann gekreuzigt worden und er, Longinus, sei auch dabei gewesen. Der Mann habe viel Wunderbares getan, viele Kranke mit seinem bloßen Wort geheilt, auch Tote wieder lebendig gemacht. Mit den vornehmen Juden sei er allerdings nicht gut ausgekommen. Die hätten auch keine Ruhe gegeben, bis sie ihn aus der Welt geschafft hätten. Der Brief soll tatsächlich - laut Sage jedenfalls - in Zöbingen angekommen sein, und die Angehörigen hätten ihrem Sohn in der Fremde auch geantwortet.
Nach einer weiteren Kunde von solch einem germanischen Soldaten namens Longinus soll dieser Hauptmann unterm Kreuz aus der Schweiz stammen. Beschrieben wird die etwas seltsam anmutende Geschichte im Jahre 1833 von Clemens Brentano, dem bekannten Romantiker. Gehört hat er sie von der zu ihrer Zeit weitum bekannten stigmatisierten Nonne Katharina Emmerich, bei der er sich sechs Jahre in Dülmen in Westfalen aufgehalten hat, um ihre Reden und Visionen aufzuzeichnen. Das Ergebnis seiner Arbeit ist ein vielbändiges Werk, und ungezählte gekürzte Ausgaben werden später geradezu katholische Volksbücher.
Den Namen Longinus trägt der Soldat in den Berichten der Seherin allerdings erst nach seiner Taufe, zuvor heißt er nämlich Cassius. Sie beschreibt den Unteroffizier als etwas voreiligen, dienstbeflissenen Menschen von 25 Jahren, „dessen sich wichtig machende Geschäftigkeit bei blöden, schielenden Augen unter seinen Untergebenen öfters Gespött erregte“. Und dann schildert sie mit verblüffender Genauigkeit das Geschehen unterm Kreuz und auch die wunderbare Heilung. Schließlich wird auch berichtet, wie der verwandelte Soldat später immer einen Teil des aufgefangenen Blutes bei sich geführt habe. Es war vertrocknet, und man fand um vieles später davon in seinem Grabe in einer italienischen Stadt. „Es ist ein grüner See mit einer Insel bei dieser Stadt. Sein Leib muss wohl dorthin gebracht worden sein“, gibt Brentano die Angaben der Seherin wieder.
Bei einer italienischen Stadt mit einem See kommt vor allem eine in Frage: die alte Herzogsresidenz Mantua. Tatsächlich wird in der Krypta der Basilika S. Andrea in einem Schrein das Blut Christi aufbewahrt, das nach der Überlieferung von Longinus aufgefangen wurde.
Nach Johannes Häusle gelangt das heilige Blut schließlich nach Weingarten. Und nun scheinen die Dinge zusammenzupassen, denn bei der dortigen sogenannten Hl. Blutreliquie handelt es sich um blutgetränkte Erde, die im Jahre 1084 im erwähnten Mantua aufgefunden worden sein soll. Ein Drittel des kostbaren Schatzes erhielt damals der deutsche Kaiser Heinrich III., der es an einen Grafen weiterverschenkte, und über dessen Tochter kam die Reliquie an die Benediktinerabtei Weingarten. Mancher ihrer Mönche stammte auch aus unserem Land. Unter einem Bregenzer Abt erwarb das Kloster das Große Walsertal, und während des Dreißigjährigen Krieges brachte sich ein Großteil der Mönche mit der berühmten Reliquie auf Burg Blumenegg oberhalb von Thüringen in Sicherheit. Und weil die Erbauung dieser Feste den Montfortern zugeschrieben wird, ergibt sich eine gute Möglichkeit, schlussendlich auf die eigentliche Überraschung in Häusles Text zu sprechen zu kommen: die Erwähnung des Namens „Longinus von Montfort“.
Es geht um einen Mann aus unserem Land also, einen Vorarlberger sozusagen!
Häusle erwähnt das „monthforthische Schloß Niderclaus bey Göziß“, womit offensichtlich die Burg Neu-Montfort gemeint ist.
Wenn der Graf von Montfort seinen Sohn zu Kaiser Tiberius schicken lässt, kann dies ja wohl nur so verstanden werden, dass er damit das montfortische Geschlecht bis in die Zeit römischer Kaiser zurückführt. Damit steht er übrigens nicht allein da, denn bereits Thomas Lirer schreibt Ende des 15. Jahrhunderts in seiner „Schwäbischen Chronik“ von einem „Kayser Kurio“, der seinem dritten Sohn eine Veste baute, die er „Starckenberg“ nannte, „gehaissen von Montfort“. Lirers Angaben halten der Überprüfung natürlich nicht stand, denn in Wirklichkeit gibt es die Montforter Grafen seit 1214; aus diesem Jahr stammt jedenfalls die erste erhaltene, von Hugo von Montfort ausgestellte Urkunde, in der er sich als „comes Montis fortis“ bezeichnet. Dieser Hugo hat sich übrigens mit großer Wahrscheinlichkeit im Heiligen Land aufgehalten, doch von den Ereignissen „auf dem Berg Calvary“, von denen Johannes Häusle schreibt, trennen ihn viele Jahrhunderte.
Auch die Sage, wonach Pontius Pilatus nach seinem Urteilsspruch eines schlimmen Todes gestorben sei und seither in einem kleinen See in der Nähe des Gipfels des Pilatus (südl. von Luzern) hause, kann den Wahrheitsgehalt der Longinus-Geschichte nicht erhärten.
Quelle: Longinus von Montfort, freundliche Emailzusendung von Franz Elsensohn am 28. November 2005