Ein Waldbruder wandelt über den Bodensee
Die Sage erzählt —ich kann nicht mehr feststellen, wo zuerst-, daß vor vielen Hunderten von Jahren in den damals noch rauhen und wilden Gebirgen südlich des Bodensees ein Klausner lebte, der allerhand Wunder tat. Es war ein einfältiger guter Gesell, der sich nach einem mühseligen und tapferen Leben vom inneren Geist geführt schließlich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, weil er, des Umtriebes müde geworden, sich nach Stille und Frieden sehnte. Da entdeckte er denn allmählich ohne jede Absicht die Wunderkraft in sich: Die Kranken, denen er gut zusprach, wurden wohler und wohler und zuletzt gesund, die Tiere des Waldes, Vögel und Wild versammelten sich um seine Hütte; und es war ihm bald, als verstünde er ihre Sprache, in der sie ihm mitteilten, was sie durch ihr freies Umherschweifen im Lande wußten, so daß er mehrmals die Leute des Gaues vor herannahenden Feinden oder sonst schlimmen Dingen warnen konnte. Und was der Wunder in alten Sagen mehr waren, geschah mit ihm. Natürlich galt er bei den Nachbarn, die freilich weit entfernt von seiner Klause wohnten, aber doch eben seine Nachbarn waren, um seines freundlichen Wesens und der Hilfe, die er jedem Bedrängten leistete, als ein frommer, gottesfürchtiger Mann. Aber nach dem Herzen der Kirche wäre er das vielleicht gar nicht einmal gewesen. Denn mit deren äußerlichen Vorschriften und mit ihrem Latein kannte sich der biedere alte Volksmann wenig aus, wie ihr gleich sehen werdet.
Als der Ruf seiner Wunder sich im Lande verbreitet hatte, da beschloß der Bischof von Passau, sich den Waldbruder anzusehen und ihm auf den Zahn zu fühlen, ob er auch genau nach den Vorschriften fromm sei, oder etwa gar auf eigene Faust: reiste also an den Bodensee, mietete sich in Buchhorn ein Schifflein, fuhr mit seinem Gefolge an das Südufer hinüber und zog den Bergen zu.
Am nächsten Tage, als er die Hütte des Klausners erreicht, wunderte er sich, was dieser einfältige Alte, der den hohen Kirchenmann in größter Bescheidenheit empfing, wohl für Wunder vermögen sollte zu tun. Der Bischof fragte den Einsiedler, welches Gebet er denn zu sprechen pflege, worauf der antwortete: „Misere me Dominus!“
Der Bischof konnte sich über dies Latein kaum des Lachens enthalten und wußte genug. Wie konnte einer Wunder wirken und von Gott dazu die Kraft erhalten, der in drei Worten seines
armseligen Gebetes gleich drei Fehler machte! Er klopfte dem Alten auf die Schulter und sagte ihm: „Lieber, das ist ja ganz falsch, wie du da betest, es muß heißen: „Miserere mei, Domine!„
Der Waldbruder sprach das richtige Latein demütig mehrmals nach und gelobte dem hohen Herrn, daß er künftig so beten wolle. Noch mit seinen Begleitern über das Geschwätz der Leute lachend, das solchen einfältigen Toren Wunderheilungen und andere übernatürliche Werke andichten wollte, gelangte der Bischof wieder an den See und bestieg das Schifflein, um, wie er meinte, von einer vergeblichen und unnützen Ausfahrt bald wieder in seinen Bischofssitz Passau heimzukehren. Als sie mittwassers waren, stieß plötzlich der Steuerknecht, der einmal rückwärts schaute, einen leichten Schreckensruf aus, und alle guckten in dieselbe Richtung. Da sahen sie, und wollten ihren Augen nicht trauen, einen Mann vom südlichen Gebirgsufer her schnell über das Wasser laufen und immer winken, daß sie anhalten sollten, was sie denn auch in fassungslosem Staunen taten - nicht bloß wegen des Winkens, sondern schon, weil den Ruderknechten die Griffe vor Verwundern aus der Hand geglitten waren.
Jetzt erkannten sie den Alten, der bald das Schiff erreicht hatte, sich über die Bordwand lehnte und voll ehrlichen Eifers den Bischof bat, ihm doch noch einmal zu sagen, wie er richtig beten müsse. Er hätte in seinem alten Kopf die Worte schon vergessen und wisse sie wieder nur, wie er sie immer gebetet habe.
Da war der Bischof erst ganz still, sah nur den einfältigen seltsamen Alten an, den er eben noch schlecht und gering achtete, und sagte schließlich, indem er die Hand zum Segen über den demütig Gebeugten erhob: „Bete so weiter wie bisher! Du betest besser als ich.“
Quelle: W. v. Scholz, eine alte bodensee-Sage, in: Das Bodenseebuch 31 (1944), S. 24, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 272ff