Der Weinzapfer
Vor zwei Jahrhunderten, als der Rhein noch freien Lauf hatte und aus dem dichten Gebüsch der Rheinauen Erlen und Weiden emporragten, soll sich dort ein Geist umgetrieben haben. Meist wurde er des Nachts von Schmugglern oder „Holzern“ gesehen. Hin und wieder zeigte er sich auch am Tage. Wurde er eines Menschen ansichtig, verschwand er blitzschnell im dichten Gestrüpp. Immer aber, wenn er gesehen wurde, trug er ein großes, langes Messer bei sich. War er durstig, ging er zu einem großen Baum, einem „Felben“, und machte mit dem Messer längs des Stammes einen tiefen Schnitt in die Rinde. Sofort floß Wein aus der Kerbe. Er fing ihn mit seinem großen schwarzen Schlapphut auf und trank, soviel er trinken konnte. Hatte er seinen Durst gestillt, griff er wiederum nach dem Messer und machte einen zweiten Schnitt in den Stamm, so daß beide Schnitte ein Kreuz bildeten. Augenblicklich hörte der Wein zu fließen auf. Der Wein aber, den der Weinzapfer trank — und es soll nicht wenig gewesen sein — mangelte nachher den Wirten. Fanden diese, daß sich ihre Vorräte auf unnatürliche Weise merklich verringert hatten, dann sagten sie: „Der Weinzapfer hat wieder einmal Durst gehabt.“
Quelle: Brauchtum, Sagen und Chronik, Hannes Grabher, Lustenau 1956, S. 33